3.
Aber wir wollen auch von ihnen absehen und auf andere zu sprechen kommen, die gerechter zu sein scheinen. Wer mag das wohl sein? Die Besitzer von Grund und Boden, welche von der Erde ihren Reichtum ziehen? Könnte es aber noch ungerechtere Menschen geben als sie? Wenn man nämlich untersucht, wie sie mit den armen und elenden Landleuten verfahren, kommt man zu der Überzeugung, dass sie unmenschlicher sind als Barbaren. Den Leuten, die ihr Leben lang hungern und sich quälen müssen, legen sie fortwährend unerschwingliche Abgaben auf, bürden auf ihre Schultern mühsame Dienstleistungen und gebrauchen sie wie Esel und Maulesel, ja wie Steine, gestatten ihnen auch nicht die mindeste Erholung, und gleichviel, ob die Erde Erträgnis abwirft oder nicht, man saugt sie aus und kennt keine Nachsicht ihnen gegenüber. Gibt es etwas Erbarmenswerteres als diese Leute, wenn sie sich den ganzen Winter über abgeplagt haben, von Kälte, Regenwetter und Nachtwachen aufgerieben sind und nun mit leeren Händen dastehen, ja obendrein noch in Schulden stecken, wenn sie dann, mehr als vor Hunger und Misserfolg, vor den Quälereien der Verwalter zittern und beben, vor den Vorladungen, dem Einsperren, der Rechenschaft, S. d884 dem Eintreiben des Pachtes, vor den unerbittlichen Forderungen? Wer ist imstande, alle die Geschäfte herzuzählen, die man mit ihnen macht, all den Vorteil, den man aus ihnen zieht? Von ihren Arbeiten, von ihrem Schweiße füllt man Speicher und Keller, ohne sie auch nur ein Weniges mit heim nehmen zu lassen, man heimst vielmehr die ganze Ernte in die eigenen Truhen und wirft jenen ein Spottgeld als Lohn dafür hin. Ja man ersinnt sogar neue Arten von Zinsen, wie sie nicht einmal die heidnischen Gesetze kennen, und schreibt Schuldbriefe, die von Fluchwürdigkeit strotzen. Nicht bloß den hundertsten Teil, sondern die Hälfte fordern sie1 , und zwar von Leuten, die Weib und Kind zu ernähren haben, die doch auch Menschen sind und die ihnen mit ihrer Hände Arbeit Speicher und Keller füllen. Aber an all das denken sie nicht. Es ist daher wohl am Platze, dass der Prophet auftritt und spricht: „Staune, Himmel, schaudere, Erde!“2 . Bis zu welchem Grade der Vertiertheit ist doch das Menschengeschlecht herabgesunken!
Wenn ich so rede, will ich jedoch nicht das Handwerk, die Landwirtschaft, den Soldatenstand oder Grund und Boden beschuldigen, sondern nur uns selbst. War doch auch Kornelius ein Offizier3 , und Paulus ein Zeltmacher4 , der neben der Predigt sein Handwerk betrieb; David war ein König, und Job war reich an Ländereien und bezog große Einkünfte aus ihnen; aber keine dieser Stellungen behinderte auch nur einen von ihnen, tugendhaft zu sein. So sollen auch wir all das beherzigen. Lasset uns an die zehntausend Talente im Gleichnis denken, um dadurch angespornt zu werden, dem Nebenmenschen seine geringe und unbedeutende Schuld zu erlassen. Auch wir werden zur Rechenschaft gezogen werden über die Gebote, die uns gegeben worden sind, und nicht imstande sein, alles zu begleichen, so sehr wir uns auch Mühe geben. Deshalb hat uns Gott einen leichten und bequemen Weg gezeigt, wie wir alle S. d885 Schulden abtragen können: Wir brauchen es nur nicht nachzutragen, wenn uns etwas Böses zugefügt worden ist. Um in diese Wahrheit recht einzudringen, wollen wir in dem Gleichnisse fortfahren und es ganz durchnehmen.
V.24: „Es wurde ihm einer gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete.
V.25: Der jedoch nicht hatte, womit er zurückbezahlen könnte, befahl sein Herr, ihn zu verkaufen samt seinem Weib und seinen Kindern.“
Erkläre mir, warum der Herr dies tat? Nicht aus Grausamkeit oder Unmenschlichkeit; die Strafe hätte ja auch ihn selbst getroffen, weil ja das Weib ebenfalls seine Sklavin war, sondern aus unbeschreiblicher Fürsorglichkeit. Er will den Knecht durch diese Drohung nur in Angst versetzen, um ihn zum Bitten zu bewegen, nicht um ihn zu verkaufen. Wäre letzteres seine Absicht gewesen, so hätte er ihm nicht in Gnaden seine Bitte gewährt. Warum handelte er aber nicht vor der Rechenschaftsablage so und ließ ihm die Schuld nicht schon vorher nach? Um ihm zum Bewusstsein zu bringen, wie groß die Schuld war, die er ihm nachsah, und um ihn gegen seinen Mitknecht zur Milde zu bewegen. Wenn er seinen Mitknecht schon würgte, trotzdem er erfahren hatte, wie gewaltig seine Schuld und wie groß die Nachsicht gegen ihn war, wie weit würde er erst in seiner Hartherzigkeit gegangen sein, wenn er nicht vorher durch so wirksame Mittel unterwiesen worden wäre? Was erwiderte nun der Knecht? Er sagt:
V.26: „Habe Nachsicht mit mir und ich werde dir alles zurückbezahlen.
V.27: Der Herr jenes Knechtes aber erbarmte sich, entließ ihn und schenkte ihm die Schuld.“
Siehst du, wie grenzenlos seine Güte ist? Der Knecht hatte bloß um Aufschub und Verzug gebeten und sein Herr gewährte ihm mehr, als er begehrt hatte, er erlässt und schenkt ihm die ganze Schuld. Das war schon von allem Anfang seine Absicht gewesen; aber S. d886 damit der andere nicht ohne Verdienst dabei bleibe, wollte er nicht, dass er bloß die Wohltat empfange, sondern dass er auch darum bitte. Freilich, wenn auch der Knecht niederfiel und bat, so kam doch schließlich alles von der Güte des Herrn. Das ersehen wir aus dem Beweggrund, der für seine Nachsicht angeführt wird: „Er erbarmte sich seiner und schenkte ihm die Schuld.“ Gleichwohl ließ er auch den Knecht scheinbar etwas dazu beitragen, um ihm eine allzugroße Beschämung zu ersparen; auch sollte er durch die Erfahrung seines eigenen Elendes Nachsicht gegen seine Mitknechte lernen.