4.
Fällt es dir nicht auf, dass alle Apostel noch recht unvollkommen sind, indem die einen sich über die zehn anderen erheben, und diese auf die beiden eifersüchtig sind? Aber, wie schon erwähnt, musst du sie später anschauen und du wirst finden, dass sie alle Verkehrtheiten abgelegt haben. Höre z.B., wie eben dieser Johannes, S. d944 der jetzt ein solches Anliegen vorgebracht hatte, in der Apostelgeschichte überall dem Petrus den Vortritt lässt, so oft dieser predigt oder Wunder wirkt. Weit entfernt, dessen Tugenden zu verschweigen, berichtet er vielmehr, dass derselbe die Gottheit Christi bekannte, während alle anderen kein Wort hervorbrachten, und dass er1 in das Grab eintrat. Immer setzt er sich dem Petrus nach. Leider hatten sie bei dem Gekreuzigten ausgeharrt; dennoch sagt er bloß, um sein eigenes Lob zu meiden: „Jener Jünger war dem Hohenpriester bekannt“2 . Jakobus lebte nicht mehr gar lange. Gleich von allem Anfange war er so voll Eifer, dass er alle menschlichen Schwächen ablegte, und erreichte eine so große Tugendhaftigkeit, dass man ihn bald umbrachte. So hoch stiegen sie also später in allen Tugenden. Damals aber gaben sie dem Unwillen nach. Was antwortet also der Herr?
V.25: „Jesus aber rief sie zu sich und sprach: Ihr wisset, dass die Fürsten der Heiden Gewaltherrscher sind über dieselben."
Um ihre Aufregung und Entrüstung zu beschwichtigen, ruft er sie zu sich und zieht sie in seine Nähe. Die beiden hatten sich nämlich von den anderen zehn getrennt und standen näher bei ihm, um mit ihm allein reden zu können. Er ruft nun auch die anderen zu sich und teilt ihnen das Zwiegespräch offen mit, um auf diese Weise beide Parteien von ihrer Untugend zu heilen. Hierbei schlägt er jedoch einen anderen Weg ein als kurz zuvor, wo er ein Kind vor sie hingestellt hatte mit der Aufforderung, dessen Einfalt und Demut nachzuahmen. Jetzt bedient er sich eines eindringlicheren Mittels, indem er auf das gerade Gegenteil hinweist. Er sagt: “Die Fürsten der Heiden sind Gewaltherrscher über dieselben und die Großen üben Macht an ihnen aus."
V.26: „Nicht so wird es sein unter euch; sondern wer immer unter euch groß werden will, sei der Diener aller.
V.27: Und wer unter euch der erste sein will, soll unter allen der letzte sein.“
Hiermit gibt er zu verstehen, dass es heidnische Gesinnung verrät, wenn man nach den ersten Stellen trachtet. Denn diese Leidenschaft ist gar gewalttätig und lastet oft auch auf großen Männern. Man muss ihr deshalb auch schärfer zu Leibe gehen. Daher der Vergleich mit den Heiden, um den Jüngern tiefer in die Seele zu greifen und sowohl die Eifersucht der einen, als die Überhebung der anderen auszurotten. Er will gleichsam sagen: Grollet nicht, als wäre euch eine Schmach angetan worden. Wer so sehr auf die ersten Plätze erpicht ist, schadet und beschämt sich ja selbst am meisten, denn er wird den letzten Platz erhalten. Bei uns ist es nicht so, wie bei den Heiden, deren Fürsten eine Gewaltherrschaft über sie ausüben; bei mir ist derjenige der erste, welcher der letzte ist. Dass es mir damit wirklich ernst ist, mag dir mein Leben und Leiden beweisen. Ich habe ja noch weit mehr getan. Trotzdem ich König der himmlischen Gewalten bin, wollte ich doch Mensch werden und habe mich vielfacher Verachtung und Misshandlung unterworfen. Ja selbst das genügte mir noch nicht; ich habe sogar den Tod auf mich genommen. Deshalb fuhr er auch fort:
V.28: „Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“
Er will sagen: Auch der Tod war mir noch nicht genug, sondern ich gab mein Leben als Lösegeld hin für wen? Für meine Feinde. Wenn du gedemütigt wirst, so ist es zu deinem eigenen Vorteile, ich aber bin gedemütigt worden für dich. Fürchte also nicht, du könntest die Achtung einbüßen. Magst du auch noch so tief gedemütigt werden, du kannst nicht so weit hinuntersteigen wie dein Herr. Und doch ist diese Erniedrigung zur Erhöhung für alle geworden, und hat seine Herrlichkeit ans Licht gebracht. Ehe er Mensch wurde, kannten ihn bloß die Engel; durch seine Menschwerdung und seinen Kreuzestod ist er auch der Menschheit bekant geworden und hat damit eine S. d946 neue Herrlichkeit gewonnen, ohne die anfängliche zu schmälern. Fürchte sonach auch du nicht, du könntest an Ehre verlieren, wenn du dich verdemütigst; im Gegenteil, du wirst an Ansehen nur noch gewinnen und wachsen. Dies ist das Tor, durch das man in den Himmel eingeht. Schlagen wir also nicht den entgegengesetzten Weg ein, und führen wir nicht gegen uns Krieg. Wenn wir groß erscheinen wollen, werden wir nicht groß sein, sondern weniger geachtet werden als die andere. Hast du gemerkt, wie der Herr bei jeder Gelegenheit die Apostel anregt, durch das Gegenteil von dem, was sie wollten, die Erfüllung ihrer Wünsche zu erreichen? Schon früher haben wir auf dieses Vorgehen zu wiederholten Malen hingewiesen, so bei seiner Rede über die Habsucht und über den Ehrgeiz. Da sagte er einmal: Warum übest du Barmherzigkeit in den Augen der Menschen? Um gelobt zu werden? Gut, tue es nicht aus diesem Grunde und du wirst bei allen Lob ernten. Warum sammelst du Schätze? Um reich zu werden? Gut, sammle dir keine und du wirst wirklich reich werden. Ähnlich macht er es auch in unserem Falle. Warum strebst du nach dem ersten Platze? Um über den anderen zu stehen? Gut, suche dir den letzten Platz aus und du wirst den ersten erhalten. Willst du also groß werden, so trachte nicht nach Größe und du wirst in Wahrheit groß sein. Das andere wäre in Wahrheit klein.