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Ein Gleiches ergibt sich, wenn man einen Vergleich mit dem bösen Feinde zieht. Gibt es etwas Gemeineres als den Teufel, der sich selbst überhoben hat? Gibt es etwas Erhabeneres als einen Menschen, der sich selbst verdemütigen will? Der Teufel kriecht auf der Erde hin und liegt unter unseren Füßen, darum heißt es: „Wandelt auf Schlangen und Skorpionen“1 ; der Demütige dagegen steht mitten unter den Engeln. Auch an aufgeblasenen Menschen kann man diese Beobachtung machen. Sieh nur auf jenen Heiden2 ,der an der Spitze eines gewaltigen Heeres stand, dabei aber nicht wusste, was alle wissen, dass ein Stein nur Stein, ein Bild nur ein Bild ist; somit stand er noch tiefer als diese Dinge. Die Gottesfürchtigen und Gläubigen hingegen erheben sich sogar über die Sonne empor. Kann es also etwas Größeres geben als sie? Selbst über die Gewölbe des Himmels steigen sie hinaus und schreiten S. d949 an den Engeln vorüber, um vor den Thron des Königs selbst hinzutreten.
Um dir die Nichtigkeit der Hoffart noch von einer anderen Seite zu zeigen, frage ich: Wer wird erniedrigt werden, einer, dem Gott beisteht oder dem er feind ist? Offenbar der letztere. Vernimm nur, was die Schrift von beiden sagt: „Gott widersetzt sich den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade“3 . Noch eine andere Frage richte ich an dich. Wer ist größer, einer, der Gott als Priester dient und ihm Opfer darbringt, oder der ihm ferne steht und zu ihm keine näheren Beziehungen hat? Ja, was für ein Opfer bringt denn der Demütige? fragt du. Höre, was David singt: „Ein Opfer vor Gott ist ein betrübter Geist; ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, o Gott, nicht verschmähen“4 . Siehst du, das ist seine Reinheit. Nun siehe auch auf die Unreinheit des anderen: „Unrein vor dem Herrn ist jeder Hoffärtige“5 . Zudem ruht der Blick des Herrn mit Wohlgefallen auf dem Demütigen: „Auf wen werde ich schauen, wenn nicht auf den Armen und im Geiste Gebeugten, und auf den, der zittert vor meinen Worten.“6 Der Aufgeblasene lässt sich vom Teufel umherschleppen, es wird ihm gerade so gehen wie dem Teufel. Daher die Worte Paulus': „Dass er nicht, zum Stolze erhoben, in das Gericht des Teufels verfalle“7 . Alle seine Pläne schlagen ihm immer ins Gegenteil um; er ist aufgeblasen, weil er nach Ehre hascht und ist doch gerade der Allerverachtetste. Er ist meist von allen verlacht, allen verhasst und zuwider, von seinen Feinden leicht zu fassen, zum Zorne geneigt und unrein vor Gott. Was gibt es also Nichtigeres als eine solche Seele? Weiter kann das Elend gar nicht mehr gehen. Gibt es andererseits etwas Lieblicheres als die Demütigen? Sie sind die glücklichsten, denn vor Gott sind sie angenehm und wohlgefällig und stehen auch bei den Menschen in Ansehen, werden von allen wie Väter S. d950 geehrt, wie Brüder geliebt, wie Familienglieder behandelt.
Lasset uns also die Demut üben, damit wir groß werden. Denn die Hoffart erniedrigt über die Maßen. Sie erniedrigte den Pharao, der sprach: „Ich kenne keinen Herrn“8 , und er wurde erniedrigt unter die Fliegen, Frösche und Heuschrecken, und ertrank obendrein mitsamt seinen Waffen und Rossen im Meere. Wie ganz anders Abraham, der da sagte: „Ich bin Staub und Asche“9 , und der über Tausende von Barbaren siegte und einen noch glänzenderen Siegespreis davontrug, als er mitten unter die Ägypter geraten war! Weil er diese Tugend nie ablegte, stieg er immer höher, und wird überall besungen, verherrlicht und gepriesen, während Pharao Staub und Asche geworden, oder was es sonst noch dergleichen wertlose Dinge gibt. Nichts verabscheut Gott so sehr wie die Hoffart. Deshalb hat er gleich von vornherein alles aufgeboten, um dieses Laster auszumerzen. Deshalb müssen wir sterben, deshalb ward Trübsal und Elend über uns verhängt, deshalb müssen wir in fortgesetzter und erniedrigender Arbeit, Mühsal und Plage leben. Aus Hoffart sündigte der erste Mensch, weil er Gott gleich zu werden strebte. Darum behielt er aber auch nicht, was er besaß, sondern büßte alles ein. Das ist eben das Verderbliche an der Hoffart. Weit entfernt, uns irgendeinen Vorteil für das Leben zu verschaffen, bringt sie uns vielmehr noch um das, was wir haben. Die Demut dagegen entzieht uns nicht von unserem Besitze, im Gegenteil, sie setzt noch in den Besitz von Gütern, die wir nicht hatten. Nach Demut wollen wir also streben, ihr gleichsam nachjagen, damit wir im diesseitigen Leben Ehren genießen und im Jenseits die Herrlichkeit gewinnen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater und dem Heiligen Geiste Ehre und Macht sei jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!