4.
Beherzige also, wie tief du in der Schuld stehst, und du wirst nicht allein bereit sein, deinen Beleidigern zu vergeben, sondern wirst denen, die dich gekränkt haben, sogar entgegeneilen, um selbst einen Anlass zur Verzeihung zu suchen und Trost in deinem eigenen Elende zu finden. Die Heiden hatten keinen besonderen Lohn zu erwarten und übten gleichwohl wiederholt diese Tugend, und du, der du beim Tode so große Hoffnung hegen darfst, kannst noch zögern und zaudern? Was die Zeit zuwege bringt, das wolltest du nicht vorher schon um des Gesetzes willen tun, du wolltest die Leidenschaft lieber ohne Aussicht auf Lohn erlöschen lassen, als mit Aussicht darauf? Ja, wenn nur die Zeit eine Versöhnung bewirkt, wirst du nichts davon haben, vielmehr wird es dir noch strenge Strafe eintragen, weil du dich durch das Gesetz Gottes nicht bewegen ließest, das zu tun, was die Zeit vermochte. Du wendest ein, bei der Erinnerung an die Beleidigung entstehe wieder der alte Groll in dir. Nun gut, dann erinnere dich an das Gute, das dir der Beleidiger je etwa erwiesen, und an das Böse, das du selbst anderen zugefügt hast. Er hat dich verleumdet und beschimpft? Bedenke, dass du es anderen auch so gemacht hast. Wie wirst du Verzeihung erlangen, wenn du sie anderen nicht gewährst? Aber du bist niemanden in Worten zu nahe getreten? Du hast aber doch solche Reden angehört und ihnen zugestimmt. Auch das ist S. d1136 schuldbar. Willst du erfahren, wie gut es ist, wenn man Böses nicht nachträgt und wie sehr dies Gott angenehm ist? Siehe, er straft es sogar, wenn man sich über die gerechte Bestrafung eines Menschen freut. Obschon nämlich die Strafe gerecht ist, so sollst du doch daran keine Freude haben. Auch der Prophet fährt nach mancherlei Tadel also fort: „Sie hatten kein Mitgefühl mit dem Jammer des Joseph“1 , und ein anderer sagt: „Die Mitbewohnerin Enans ging nicht hinaus, um das Nachbarhaus zu beklagen“2 . Obwohl Joseph, d.h. der Stamm Josephs und seine Nachbarstämme nach Gottes Entschluss gezüchtigt wurden, so will er gleichwohl, dass man mit ihnen Mitleid habe. Trotz unserer Schlechtigkeit werden doch auch wir sehr erbittert, wenn wir einen Knecht strafen und sehen, dass ein anderer Knecht darüber lacht, und kehren unseren Zorn gegen diesen. Um so mehr wird Gott die strafen, die bei anderer Züchtigung schadenfroh sind.
Wenn wir nun schon die Menschen, die Gott strafte, nicht verhöhnen, sondern bemitleiden sollen, um wieviel mehr müssen wir Mitleid haben, wenn jemand gegen uns gefehlt hat. Dann zeigen wir erst wirklich Nächstenliebe und das schätzt Gott über alles. Wie am königlichen Purpur die Blumen und Farben geschätzt werden, die ihn zum königlichen Mantel machen, so sind auch die Tugenden schätzenswert, welche die Liebe ausmachen. Nichts ist aber so sehr geeignet, die Liebe zu bewahren, wie das Vergessen der Beleidigungen. Oder hat Gott seine Fürsorge nicht auch dem anderen Teil zukommen lassen? Hat er nicht den Beleidiger an den Beleidigten gewiesen? Schickt er ersteren nicht vom Opfer weg zu letzterem und lädt ihn erst nach der Aussöhnung an seinen Tisch? Das darf dich aber nicht veranlassen, auf ihn zu warten, da du sonst um allen Verdienst kommst. Eben deshalb setzt er dir einen so unaussprechlichen Lohn in Aussicht, damit du ihm zuvorkommest. Wofern du dich erst versöhnst, wenn du dazu aufgefordert wirst, so wird die Freundschaft nicht mehr S. d1137 auf Geheiß Gottes, sondern durch den Eifer des anderen geschlossen und du gehst dabei ohne Lohn aus, während der andere den Preis gewinnt. Was? Du sagst, du hast einen Feind und schämst dich nicht? Haben wir nicht am Teufel genug, dass wir auch noch unseresgleichen gegen uns aufbringen? O, dass uns doch der Teufel nicht anfeindete, o gäbe es doch überhaupt keinen! Weißt du nicht, wie süß die Wonne nach der Versöhnung ist? Indessen während der Feindschaft sieht man das nicht so klar ein. Erst nach dem Aufgeben des Hasses wird dir das volle Verständnis aufgehen, dass es süßer ist, den Beleidiger zu lieben, als ihn zu hassen.