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V.6: „Während aber Jesus in Bethanien war, im Hause Simons, des Aussätzigen, V.7: trat zu ihm ein Weib, welches ein Alabastergefäß mit kostbarem Salböle hatte und sie goss dasselbe nieder auf sein Haupt, während er zu Tische war.“
Es scheint sich zwar hier bei allen Evangelisten um ein und dasselbe Weib zu handeln; dem ist aber in Wirklichkeit nicht so. Ich glaube, bei den drei ersten ist es ein und dieselbe, bei Johannes jedoch nicht, sondern ein anderes, das unsere Bewunderung herausfordert, nämlich des Lazarus Schwester1 .
Auch den Aussatz Simons erwähnt der Evangelist nicht ohne Absicht, er will vielmehr damit das Vertrauen des Weibes erklären. Obschon nämlich der Aussatz als eine unreine und ekelhafte Krankheit bekannt war, hatte sie doch beobachtet, dass Jesus den Mann geheilt und die Krankheit von ihm genommen hatte, er würde sich sonst kaum bei dem Aussätzigen aufgehalten haben; sie fasste daher das Vertrauen, er werde vielleicht auch die Unreinheit von ihrer Seele wegnehmen. Ebenso erwähnt der Evangelist nicht ohne Zweck den Ort Bethanien; er will damit beweisen, S. d1140 dass der Herr freiwillig seinem Leiden entgegengeht. Hatte er früher, als die Eifersucht der Juden aufs höchste gestiegen war, diese gemieden, jetzt nähert er sich Jerusalem bis auf fünfzehn Stadien; er hatte sich also bisher mit bewusster Absicht ferngehalten. Da also das Weib ihn bemerkte, fasste sie Mut und trat zu ihm hin. Wenn nämlich schon die Blutflüssige zitternd und furchtsam dem Herrn genaht war, obwohl sie kein böses Gewissen hatte und ihre Unreinigkeit offenbar nur ganz natürlichen Ursachen entsprang, wieviel mehr musste dann dieses Weib, das sich vieler Sünden bewusst war, zagen und bangen? Deshalb wendet sie sich erst dann an ihn, nachdem ihr viele andere Weiber, die Samariterin, die Chanaaniterin, die Blutflüssige und noch mehrere andere vorangegangen waren, weil sie eben viele Wollustsünden begangen hatte, und zwar tut sie es nicht öffentlich, sondern in einem Hause. Während alle anderen bloß kamen, um leibliche Heilung zu finden, tritt sie zu ihm, nur um ihn zu ehren und Besserung der Seele zu suchen. Sie hatte ja kein leibliches Gebrechen an sich, aber eben darum muss man sie besonders bewundern.
Auch naht sie sich ihm nicht, als wäre er nur ein bloßer Mensch, sonst hätte sie nicht das Haar zum Trocknen genommen; sie sieht in ihm etwas Größeres, Übermenschliches. Deshalb neigt sie den ausgezeichnetsten Teil ihres Leibes, ihr Haupt, zu Christi Füßen nieder.
V.8: „Als es aber die Jünger sahen, zürnten sie und sagten: Wozu diese Verschwendung?
V.9: Man hätte ja dieses Salböl teuer verkaufen und2 den Armen geben können.
V.10: Jesus aber wusste es und sprach: Was behelliget ihr dieses Weib? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.
V.11: Denn die Armen habt ihr immerdar um euch, mich aber habt ihr nicht immer.
V.12: Indem diese da dieses Salböl auf meinen Leib ausgegossen hat, hat sie es zu meinem Begräbnisse getan.
V.13: Wahrlich, ich sage euch, wo immer in der ganzen Welt dieses Evangelium verkündigt wird, da wird auch S. d1141 das, was sie getan hat, erwähnt werden zu ihrem Gedächtnisse.“
Woher rührt denn diese Gesinnung bei den Aposteln? Sie hatten doch vom Meister gehört: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“3 , und den Vorwurf vernommen, den er den Juden machte, dass sie das Wichtigere beiseite ließen, die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und den Glauben, und viele Lehren, die er auf dem Berge über das Almosen vorgetragen hatte, hatten sie gehört. Aus all dem folgerten sie bei sich und meinten, wenn er Brandopfer und den Gottesdienst des Alten Bundes nicht gutheißt, so wird er um so weniger die Salbung mit Öl billigen. Das waren ihre Gedanken; obwohl aber der Herr in ihr Herz blickte, ließ er es doch zu. Es handelte sich ja um eine Tat großer Frömmigkeit und unbeschreiblichen Eifers. Deshalb erlaubte er auch in liebevoller Herablassung, dass sie das Öl über sein Haupt gieße. Wenn er nicht anstand, Mensch zu werden, von der Mutter getragen und genährt zu werden, warum wunderst du dich, dass er sich salben ließ? Wie der Vater Opferdampf und Opferrauch nicht zurückwies, so gewährt er der Buhlerin Zutritt, da er, wie schon bemerkt, ihre gute Absicht billigte. Auch Jakob hatte Gott einen Steinblock durch Salböl geweiht, bei den Opfern wurde Öl dargebracht und die Priester wurden mit Chrisam gesalbt. Die Jünger aber, die nicht in ihr Herz blickten, tadelten sie in ungeschickter Weise, stellen aber gerade durch ihre Vorwürfe die Großmut des Weibes recht ins Licht. Denn wenn die Apostel sagten, man hätte die Salbe um dreihundert Denare verkaufen können, so zeigt das nur, wieviel sie darauf verwendet und welche Hochherzigkeit sie an den Tag legte. Deshalb wies auch der Herr die Apostel zurecht mit den Worten: „Was behelliget ihr dieses Weib?“ Dann erinnert er sie wieder an sein Leiden, indem er als Grund anführt: „sie hat es zu meinem Begräbnis getan“, und als weiteren Grund: „Die Armen habt ihr immerdar unter euch, mich aber habt ihr nicht allezeit“, und: „Wo immer dieses Evangelium S. d1142 verkündigt wird, da wird auch berichtet werden, was sie getan hat.“ Siehst du, wieder sagt er vorher, dass sie zu den Heiden gehen werden, und tröstet sie über seinen Tod durch den Hinweis, dass sich nach seiner Kreuzigung seine Macht besonders in der Verbreitung des Evangeliums über die ganze Erde zeigen wird. Wer ist also noch so erbärmlich, dass er einer so klaren Wahrheit widerstreitet? Wie er gesagt, so ist es eingetroffen. Wohin du auf der Welt kommen magst, überall findest du, dass auch die Tat dieses Weibes verkündet wird. Und doch war die Person nicht berühmt; es waren nicht viele Zeugen zugegen und die Sache ging nicht in einem öffentlichen Theater vor sich, sondern in einem Hause, in der Wohnung eines Aussätzigen, bloß im Beisein der Jünger.
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Chrysostomus hält also dieses „Weib“ für identisch mit der öffentlichen Sünderin bei Lukas 7,36-50, dagegen verschieden von Maria, der Schwester das Lazarus (Joh 12,1-8). Das ist auch die Auffassung der griechischen Kirche. Der Grund ist der, weil die Salbung bei Matthäus und Markus nach dem Palmsonntag geschieht, bei Johannes vor demselben. ↩
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den Erlös ↩
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Mt 6,13 u. Os 6,6 ↩