2.
S. d1194 So sprach er zu seinen Jüngern. Zu seinen Feinden aber sagte er:
V.52: „Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen mit Schwertern und Knütteln, um mich gefangen zu nehmen; täglich saß ich bei euch lehrend im Tempel, und ihr nahmt mich nicht fest.“
Siehe, wieviel er tut, um sie zu erschüttern. Er hatte sie niedergeworfen, hatte das Ohr des Knechtes geheilt, hatte ihnen einen gewaltsamen Tod in Aussicht gestellt. „Wer zum Schwerte greift“, sagte er, „wird durchs Schwert umkommen.“ Durch die Heilung des Ohres gab er auch dieser Drohung Nachdruck, auf alle mögliche Weise offenbart er seine Macht, durch Hinweis auf die Gegenwart, wie auf die Zukunft, und macht es klar, dass seine Gefangennehmung nicht ihrer Macht zuzuschreiben ist. Deshalb erklärt er auch: „Täglich war ich bei euch und lehrte, und ihr habt mich nicht festgenommen“, um auszudrücken, dass sie ihn nur deshalb ergreifen konnten, weil er es zuließ. Mit Übergehung seiner Wunder spricht er nur von seiner Lehre, um nicht prahlerisch zu erscheinen. Als ich lehrte, habt ihr euch meiner nicht bemächtigt; jetzt, da ich schweige, überfallt ihr mich? Ich hielt mich gewöhnlich im Tempel auf, und kein Mensch hat mich angehalten; jetzt, zur Unzeit, mitten in der Nacht, dringet ihr auf mich ein mit Schwertern und Knütteln? Wozu bedurfte es dieser Waffen gegen einen Mann, der immer unter euch weilte? Er zeigt damit, dass sie ihn nicht überwältigt hätten, wenn er sich nicht freiwillig in ihre Hände gegeben hätte. Wenn sie ihn nicht festzunehmen vermochten, da sie ihn in ihrer Gewalt hatten, und sich seiner nicht bemächtigten, trotzdem sie ihn in ihrer Mitte hielten, so hätten sie auch jetzt nichts gegen ihn vermocht, wenn er nicht gewollt hätte. Dann löst er auch den Zweifel, warum er jetzt wollte.
V.56: „Dieses ist geschehen“, sagt er, „auf dass erfüllt werden die Schriften der Propheten.“
Siehe, wie der Herr bis zum letzten Augenblicke und sogar noch während des Verrates alles tut, um sie zu S. d1195 bessern, er heilt, er weissagt, er droht: „durchs Schwert werden sie umkommen“. Er zeigt, dass er freiwillig leidet, „täglich war ich unter euch und lehrte“; er bekundet, dass er mit dem Vater übereinstimmt, „damit die Schriften der Propheten erfüllt werden“. Warum haben sie ihn nicht im Tempel ergriffen? Sie wagten es nicht wegen des Volkes. Daher begab er sich aus der Stadt hinaus, damit Ort und Zeit ihnen die Gelegenheit böte, und ordnet bis zur letzten Stunde alles so, dass ihnen jede Entschuldigung abgeschnitten ist. Wie hätte er auch im Widerspruch zu den Propheten stehen sollen, da er sich sogar seinen Feinden überliefert, um deren Ausspruch zu erfüllen?
V.56: „Da verließen ihn alle seine Jünger und entflohen.“
Als man ihn festnahm, waren sie noch geblieben, wie er jedoch diese Worte zu der Rotte gesprochen hatte, ergriffen sie die Flucht. Sie sahen schließlich ein, dass sich nichts mehr machen ließ, weil er sich selbst den Häschern übergab und erklärte, es geschähe im Sinne der Schrift. Nachdem die Jünger entflohen waren,
V.57: „führte man ihn zu Kaiphas.
V.58: Petrus aber folgte ihm und trat ein, um zu sehen, welches Ende die Sache nähme.“
Groß ist die Liebe des Jüngers1 ; er floh nicht, als er die anderen fliehen sah, sondern blieb und ging mit zum Richter hin. Freilich tat das auch Johannes, aber der war dem Hohepriester bekannt. Warum führte man den Herrn an den Ort, wo alle versammelt waren? Damit alles nach der Entscheidung der Hohenpriester vor sich gehe. Kaiphas war damals Hohepriester, und alle waren bei ihm versammelt, um Christus zu erwarten; zu diesem Zwecke brachten sie die Nacht wachend zu. Sie hatten noch nicht das Osterlamm gegessen, heißt es, sondern wachten aus dem erwähnten Grunde. Nach der Bemerkung, dass es früh am Morgen war, fährt nämlich Johannes fort: „Sie gingen nicht hinein in das Gerichtshaus, damit sie nicht verunreinigt würden, sondern das Ostermahl S. d1196 essen dürften“2 . Wie soll man sich das erklären? Sie aßen es am folgenden Tage mit Übertretung des Gesetzes, so groß war ihre Begierde nach seinem Tode. Nicht Christus wich von der Zeit des Ostermahles ab, sondern sie, die alle Schandtaten begingen und tausend Gesetze mit Füßen traten. Ihr Groll kochte gar heftig in ihnen, oft schon hatten sie ihn zu beseitigen versucht, nie war es ihnen gelungen, jetzt, da sie ihn wider Erwarten gefangen hatten, machten sie sich nichts daraus, das Ostermahl zu unterlassen, nur um ihre Mordlust befriedigen zu können. So hatten sich denn alle eingefunden, eine Versammlung von Nichtswürdigen, und man legte dem Herrn einige Fragen vor, um der Verschwörung den Anstrich einer Gerichtssitzung zu geben. Die Zeugenaussagen stimmten aber nicht überein, so sehr war es nur ein Scheingericht voll lauter Lärm und Durcheinander.
V.60: „Es kamen aber zwei falsche Zeugen und sprachen:
V.61: Dieser hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes niederreißen und binnen drei Tagen wieder aufbauen.“
Allerdings hat er gesagt: „In drei Tagen“, aber nicht: ich kann niederreißen, sondern: „Reißet nieder“3 ; er hatte auch nicht den Tempelbau gemeint, sondern seinen eigenen Leib. Was sagt nun der Hohepriester? Er wollte ihn zur Rechtfertigung veranlassen, um ihn darin zu verstricken; deshalb fragt er:
V.62: „Hörst du nicht, was diese wider dich bezeugen?
V.63: Jesus aber schwieg.“
Es wäre zwecklos gewesen, sich zu verteidigen, wo niemand hören mochte. Es war ja doch nur ein Gericht zum Schein, in Wahrheit ein Überfall von Räubern, wie sie sacht aus einer Höhle oder auf offener Straße hervorbrechen. Deshalb schwieg der Herr. Kaiphas sprach S. d1197 von neuem:
V.63: „Ich beschwöre Dich bei Gott, dem Lebendigen, dass Du es uns sagest: ob Du der Christus bist, der Sohn des lebendigen Gottes?
V.64: Er antwortete: Du hast es gesagt; ich aber sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Kraft Gottes und kommen auf den Wolken des Himmels.
V.65: Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und rief: Er hat Gott gelästert.“
Das tat er, um die Schuld recht groß hinzustellen und seinen Worten durch solches Tun mehr Nachdruck zu geben. Da sie durch die Rede des Herrn in Angst versetzt worden waren, machten sie es hier, wie man es Stephanus gegenüber gemacht hatte: Sie hielten sich die Ohren zu.