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Indessen, wen hätte die Menge, die ihm unter Tränen folgte, nicht rühren müssen? Nur diese Vertierten nicht. So würdigt der Herr die einen einer Anrede, die anderen nicht. Nachdem sie alles nach Herzenswunsch getan, suchen sie auch sein Ansehen herabzuwürdigen, weil sie fürchteten, er könnte wieder auferstehen. Darum führen sie ihre Reden öffentlich vor allem Volke, kreuzigen Räuber mit ihm und sagen, um ihn als Betrüger hinzustellen:
V.40: „Der Du den Tempel niederreißen und binnen drei Tagen wieder aufbauest, steige herab vom Kreuze.“
Bei Pilatus richteten sie nämlich nichts aus, als sie ihn baten, die Begründung des Urteils zu entfernen, die da lautete: „Der König der Juden“; im Gegenteil, er bestand darauf mit den Worten: „Was ich geschrieben habe, bleibt geschrieben“; deshalb versuchten sie selbst durch ihre Verhöhnung zu zeigen, dass Christus kein König sei. Daher sagten sie außerdem noch:
V.42: „Wenn er Israels König ist, so steige er jetzt herab vom Kreuze“, und: „Andern hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen“,
damit wollten sie zugleich seine früheren Wundertaten entkräften; ferner:
V.43: „Wenn er Gottes Sohn ist und er ihn liebt, so befreie er ihn nun.“
O, ihr Bösewichter und Ausbünde von Bosheit! Waren etwa die Propheten keine Propheten, waren die Gerechten nicht gerecht, weil Gott sie nicht aus den Gefahren entrißt? Sie waren es, trotzdem es ihnen so S. d1229 erging. Lässt sich darum etwas mit eurer Torheit vergleichen? Wenn das Hereinbrechen von Unglück ihr Ansehen bei euch nicht schädigte, wenn sie Propheten blieben, trotz der Drangsalen, die ihnen widerfuhren, so durftet ihr bei Christus um so weniger Anstoß nehmen, da er doch stets durch Taten und Worte eure falsche Meinung schon zum voraus richtiggestellt hatte. Aber mit all ihren Reden und Handlungen erreichten die Juden nichts, nicht einmal in jenem Augenblicke. Eben als sie so redeten, da bekannte der Mensch, der sein ganzes Leben in der äußersten Schlechtigkeit mit Mordtaten und Einbrüchen zugebracht hatte, dass Jesus König ist, und sprach von seinem Reich. Auch das Volk bejammerte ihn. Freilich hatte es den Anschein, als ob diese Vorgänge für Leute, die den Zweck des Leidensgeheimnisses nicht kannten, das Gegenteil bekundeten, nämlich dass er ohne Kraft und Macht sei; indessen auch durch das Gegenteil brach sich die Wahrheit Bahn.
Wenn wir nun diese Geschichte hören, wollen wir uns waffnen gegen jede Regung des Zornes und Grolles. Und wenn du merkst, dass dein Herz aufflammt, so drücke das Kreuz als Siegel auf deine Brust, gedenke der Ereignisse jener Zeit und du wirst durch die Erinnerung an diese Vorgänge allen Groll wie Staub abschütteln. Beherzige, was Christus redete, was er tat; beherzige, dass er der Herr ist, du ein Knecht; dass er deinetwegen leidet, du aus eigener Schuld; er für jene, die von ihm Wohltaten empfangen hatten und ihn kreuzigten, du für dich selbst; er für die Übeltäter, du oft von solchen, denen du Unrecht getan; er vor den Augen der ganzen Stadt oder vielmehr das ganzen Judenvolkes, Fremder und Einheimischer, an die er Worte voll Liebe gerichtet hatte, du im Beisein weniger. Was ihm aber den schwersten Schimpf antat, war, dass er auch von seinen Jüngern verlassen wurde. Seine ehemaligen Anhänger waren entwichen, Feinde und Widersacher hatten ihn ergriffen, schlugen und misshandelten, lästerten, verhöhnten, verlachten und verspotteten ihn; unten die Juden und Soldaten, oben zu beiden Seiten die Schächer; denn auch beide Mörder beschimpften und schmähten ihn. Wie kann aber Lukas schreiben, einer S. d1230 machte ihm Vorwürfe? Beides trifft zu. Zuerst hatten ihn beide geschmäht, später nicht mehr. Damit man nicht etwa meine, die Sache sei abgekartet oder der Räuber sei kein Räuber gewesen, zeigt er dir durch das Schmähen, dass er noch am Kreuze ein Räuber und Feind war, aber plötzlich sich änderte. Das alles musst du also erwägen, dann wirst du tugendhaft sein. Oder hast du etwas Derartiges zu leiden, wie dein Herr? Du bist öffentlich beschimpft worden? Aber doch nicht so abscheulich. Du wirst misshandelt? Aber nicht am ganzen Leibe, wirst nicht wie er gegeißelt und entblößt. Und wenn du geschlagen wurdest, dann gewiss nicht so grausam.