3.
Hast du gesehen, wie mutig die Frauen waren, wie liebevoll, wie hochherzig sie die Auslagen bestritten und bis zu seinem Tode ausharrten? Wir Männer, lasset uns diese Frauen nachahmen, verlassen wir Jesum nicht in den Stunden der Prüfungen! Jene wendeten noch so viel für den Toten auf und setzten ihr Leben aufs Spiel; wir aber1 , wir speisen keinen Hungernden und kleiden keinen Nackten, sondern gehen vorbei, wenn er uns bittet. Ja, wenn ihr den Herrn selbst sähet, würde jeder sein Vermögen bis zum letzten Heller hingeben; und doch ist er es auch jetzt wirklich selbst. Er hat es ja gesagt: „Ich bin es.“ Warum gibst du also nicht alles hin? Auch jetzt noch spricht er: „Mir tust du es.“ Es macht nichts aus, ob du dem oder jenem gibst, du wirst keinen geringeren, sondern einen weit größeren Lohn erhalten als diese Frauen, die damals für ihn sorgten. Lasset euch nicht beirren! Es ist nicht ein und S. d1242 dasselbe, ob man Jesum speist, wenn er als Herr auftritt das vermöchte ja auch eine steinerne Seele anzuspornen, oder ob man ihn pflegt, wenn er nur in der Gestalt der Armen, Verkrüppelten und Gebrechlichen erscheint. Dort hat der Anblick und das Ansehen des Auftretenden mit teil an deiner Tat; hier ist der Lohn der Nächstenliebe ganz dein. Dabei ist es ein Beweis größerer Ehrfurcht gegen ihn, wenn du um seines Geheißes willen deinen Mitknechten in allem hilfst und beistehest. Unterstütze ihn also und sei überzeugt, dass es derjenige entgegennimmt, der da spricht: „Du gibst es mir“. Hättest du es nicht ihm gegeben, so würde er dir nicht das Himmelreich dafür schenken. Hättest du nicht ihn abgewiesen, sooft du einen gewöhnlichen Menschen nicht achtest, würde er dich deshalb nicht in die Hölle verdammen; weil jedoch er selbst es ist, der verachtet wird, deshalb ist die Schuld so groß. So hat auch Paulus den Herrn verfolgt, als er seine Anhänger verfolgte. Darum fragt ja auch der Herr: „Warum verfolgst du mich?“2 .
Lasset uns also unsere Gaben stets so darreichen, als ob wir sie Christus selbst anböten. Seine Worte verdienen ja mehr Glauben als unsere eigenen Augen. Wenn du somit einen Armen siehst, gedenke, dass der Herr gesagt hat, er sei es, der gespeist wird. Ist es auch nicht Christus dem Äußeren nach, so ist doch er es, der in der Gestalt dieses Bettlers bittet und empfängt. Aber es beschämt dich zu hören, Christus bitte? Lass es dich lieber beschämen, dass du ihm nichts gabst, wenn er bittet. Das ist eine Schande, das verdient Strafe und heischt Sühne. Dass er bittet, ist ein Ausfluss seiner Güte und darauf sollen wir stolz sein; wenn du aber nichts gibst, ist dies ein Beweis deiner Hartherzigkeit. Wenn du jetzt nicht glaubst, dass er es ist, den du in dem armen Glaubensgenossen unbeachtet lässest, so wirst du es dann glauben, wenn er dich vor Gericht zieht und sagt: „Was immer ihr diesen nicht getan habt, habt ihr auch mir nicht getan.“ Aber lassen wir uns diese Lehre nicht auf eine solche Weise geben, sondern lasset uns S. d1243 glauben und dadurch verdienen, dass wir jenes beseligende Wort vernehmen, das uns die Pforten des Himmelreiches öffnet.
Aber vielleicht wird jemand einwenden: Tag für Tag predigst du uns über das Almosen und die Nächstenliebe. Allerdings, und ich werde auch immer wieder darüber sprechen. Denn wenn ihr auch in dieser Tugend vollkommen wäret, so dürfte ich dennoch nicht aufhören, um euch nicht nachlässig zu machen. Wenn ihr es aber wäret, hätte ich wohl einige Zeit damit aufgehört; da ihr es aber noch nicht einmal mittelmäßig seid, so dürfet ihr nicht mir, sondern müsset euch selbst jene Worte entgegenhalten. Mit eurem Vorwurfe machet ihr es nämlich wie ein Kind, das den Buchstaben a immer wieder zu hören bekommt, weil es ihn nicht lernt, und nun dem Lehrer Vorwürfe macht, dass er ununterbrochen und unablässig wiederhole. Ist denn jemand durch meine Reden geneigter zum Almosengeben geworden? Hat jemand sein Geld oder auch nur die Hälfte seines Vermögens hingegeben oder etwa ein Drittel? Niemand. Ist es also nicht widersinnig, wenn man will, dass wir zu lehren aufhören, während ihr noch nicht lernet? Gerade das Gegenteil müsste sonach geschehen. Wollten wir auch aufhören, so müsstet ihr uns abhalten und sagen: Wir haben das Almosengeben noch nicht gelernt, und ihr lasset ab, es in Erinnerung zu bringen? Wenn jemand ein Augenleiden hätte und ich ein Arzt wäre und mit Pflastern, Salben und sonstiger Behandlung plötzlich aufhörte, weil ich damit keinen besonderen Erfolg erzielte, würde man nicht in mein Zimmer kommen, mich anfahren und großer Leichtfertigkeit zeihen, weil ich mich zurückgezogen hätte, obschon die Krankheit noch nicht behoben sei? Und wollte ich auf diesen Vorwurf hin erklären, ich hätte ja Pflaster und Salben angewendet, würde man sich damit zufrieden geben? Durchaus nicht, man würde vielmehr alsbald erwidern: Was nützt das, wenn ich noch immer leide? So muss man auch betreffs der Seele urteilen. Wie, wenn es mir nicht gelungen wäre, eine gelähmte und verkrüppelte Hand trotz vieler Umschläge beweglich zu machen, bekäme ich nicht dasselbe zu hören? Aber auch in S. d1244 unserem Falle gilt es, eine verkrüppelte und verdorrte Hand zu erweichen; daher werden wir nicht ablassen, bis wir sie schließlich doch gerade strecken. Dass doch auch ihr von nichts anderem redet daheim und auf dem Markte, bei Tisch und in der Nacht und im Traume! Wäre das nämlich den Tag über stets unsere Sorge, so würden wir uns auch im Traume damit beschäftigen.