5.
Siehst du, wie er ihnen gerade das, worauf sie so stolz waren, zu ihrer eigenen Verschuldung umstempelt? Gott hat ihnen so große Ehre angetan, er hat von seinem Wohlwollen nicht gelassen, obzwar er voraussah, was kommen wird, und sie haben die Ehrengeschenke selbst dazu benützt, gegen ihn zu freveln. Er sagt: „Was aber, wenn einige ihm keinen Glauben schenkten?“ während es doch wohl alle am Glauben haben fehlen lassen. Um jedoch nicht als ein allzu scharfer Ankläger und als ein Feind der Juden zu erscheinen, spricht er nicht einfach diese geschichtliche Tatsache aus, sondern kleidet das, was wirklich geschehen ist, in die Form eines Annahmesatzes, indem er spricht:
„Gott bleibe wahrhaft, sei auch jeder Mensch ein Lügner.“
—Was er damit sagen will, ist etwa das: Ich behaupte nicht, daß einige Gott keinen Glauben schenkten; wenn du willst, nimm an, alle seien ungläubig gewesen. Was tatsächlich geschehen ist, gibt er bedingungsweise zu, um nicht in den Verdacht der Feindseligkeit zu kommen. Aber auch das, sagt er, dient dazu, Gott nur noch mehr zu rechtfertigen. Was heißt: zu rechtfertigen? Wenn man einmal das sichten und nebeneinanderstellen wollte, was Gott für die Juden getan, und was sie Gott angetan haben, dann steht der Sieg auf seiten Gottes, und alles von ihm ist Rechttun. Nachdem er das mit eigenen Worten klar gemacht hat, führt er noch den Propheten an, der auch ein Verdammungsurteil über sie ausspricht, wenn er sagt:
„Auf daß du gerecht erfunden wirst in deinen Worten und den Sieg zugesprochen erhältst, wenn man über dich urteilt“. 1
—Er hat von seiner Seite alles getan, sie aber wurden keineswegs besser. — Hierauf bringt er noch einen andern Einwand vor, der auftauchen könnte, indem er sagt:
V. 5: „Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit ins Licht setzt, was sollen wir daraus schließen?
S. b96Ist Gott nicht ungerecht, wenn er in seinem Zorne straft? — menschlich gesprochen.“
Das sei ferne! — Der Apostel erweist den Einwand als irrig, indem er eine unsinnige Folgerung daraus ableitet. Da das aber etwas unklar ist, muß ich mich deutlicher erklären. Was will er also sagen? Gott hatte den Juden Ehre angetan, sie aber haben ihn frevelhaft mißachtet. Das hat ihm den Sieg über sie verschafft; denn es gab ihm Gelegenheit, seine große Liebe zu den Menschen an den Tag zu legen, die sich darin äußert, daß er ihnen auch dann noch Ehre antut, wenn sie sich so gegen ihn benehmen. Da könnte jemand sagen: Nun gut; wenn wir gegen Gott freveln und Unrecht tun, so verschaffen wir ihm dadurch eigentlich einen Sieg, den nämlich, daß seine Gerechtigkeit in ihrem ganzen Glanze erstrahlt. Warum werde ich aber dann gestraft, da ich, doch durch meinen Frevel die Ursache seines Sieges geworden bin? — Wie löst nun der Apostel diesen Einwand? Wie gesagt, indem er eine unsinnige Folgerung daraus ableitet. Wenn du, sagt er, die Ursache seines Sieges geworden bist und hinterdrein gestraft wirst, so geschieht damit ein Unrecht von Seiten Gottes; bist du aber nicht ungerecht und wirst doch gestraft, so hast du damit Gott nicht zu einem Siege verholten. Beachte auch die Bedachtsamkeit des Apostels (im Ausdruck)! Nach den Worten: „Ist Gott nicht ungerecht, wenn er in seinem Zorne straft?“ fügt er bei: „menschlich gesprochen“. Er will sagen: Wie man nach menschlichen Begriffen zu reden pflegt. Denn das gerechte Urteil Gottes übertrifft bei weitem das, was uns gerecht vorkommt, und hat andere unerforschliche Gründe. — Weil das eben Vorgetragene etwas unklar war, wiederholt er denselben Gedanken noch einmal:
V. 7: „Denn wenn die Wahrhaftigkeit Gottes gerade durch mein Lügengewebe zu seiner Verherrlichung ans Licht kommt, was werde ich da noch als Sünder zur Rechenschaft gezogen?“
Wenn Gott, soll das heißen, infolge deines Ungehorsams als menschenfreundlich, gerecht und gütig offenbar wird, so solltest du nicht gestraft, sondern be- S. b97 lohnt werden. Wenn aber dem so ist, dann wird ja zur Wahrheit jene sinnlose Rede, die im Munde vieler ist, daß aus dem Bösen das Gute hervorgehe und daß schuld am Guten das Böse sei; und notwendigerweise muß eines von diesen beiden gelten. Entweder erscheint Gott, wenn er straft, ungerecht, oder er trägt einen Sieg davon infolge unserer Bosheit, wenn er nicht straft. Beides ist über die Maßen ungereimt. Der Apostel erweist dies auch dadurch als falsch, daß er die Heiden als die Erfinder solcher Lehren einführt; er ist offenbar der Meinung, es genüge zur Kennzeichnung solchen Geredes, die Person derer zu kennen, die es aufgebracht haben. Denn sie waren es, die einst uns zum Spott sagten: Lasset uns Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe! Darum sagt er mit offenkundiger Beziehung darauf weiter:
V. 8: „Sollten wir da nicht, wie wir geschmäht werden und wie manche uns nachsagen, daß wir diesen Grundsatz vertreten, wirklich Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe? Die Verurteilung solcher ist offensichtlich.“
Es ist nämlich ein Ausspruch des Paulus: „Wo die Sünde überhand genommen, da war überschwenglich geworden die Gnade“ 2. Manche hatten ihn deswegen verspottet und, indem sie diesen Worten einen falschen Sinn unterlegten, gesagt, man müsse sich ans Böse halten, um das Gute zu genießen. Das hatte aber Paulus nicht gesagt. Indem er nun seinem Worte den richtigen Sinn gibt, sagt er: Was also? Sollen wir in der Sünde verharren, damit die Gnade überschwenglich werde? Das sei ferne! Von vergangenen Zeiten, will er sagen, habe ich damals gesprochen, nicht damit wir in Zukunft darnach handeln. Er weist diese Unterstellung auch dadurch zurück, daß er sagt, es sei ein solcher Sinn übrigens auch ganz unmöglich. Wie sollten wir, sagt er, wenn wir der Sünde abgestorben sind, in ihr noch fürderhin leben?