5.
Siehst du da, wie Paulus nichts auf das Gesetz kommen läßt? Die Sünde, sagt er, bekam Anlaß und S. b224 mehrte die Begierde, nicht das Gesetz, und es geschah das Gegenteil von dem, was das Gesetz wollte. Es war das eine Folge der Schwäche, nicht der Bosheit. Wenn wir nämlich etwas begehren und auf ein Hindernis stoßen, so lodert die Flamme der Begierde noch höher empor. Schuld daran ist aber nicht das Gesetz. Dieses war vielmehr ein Hindernis, das die Verführung hemmte; die Sünde aber, d. i. dein Leichtsinn, deine böse Gesinnung, mißbrauchte das Gute zum Gegenteil. Nicht den Arzt trifft dieser Vorwurf, sondern den Kranken, der die Arznei unrichtig gebrauchte. Denn nicht dazu hatte Gott das Gesetz gegeben, daß es die Begierde anfache, sondern daß es sie auslösche. Das Gegenteil trat jedoch ein. Aber nicht das Gesetz trifft deswegen der Vorwurf, sondern uns. Denn wenn jemand den Fieberkranken, der zur Unzeit einen kühlen Trunk begehrt, nicht den Durst stillen läßt und so die Begierde nach der verderblichen Wonne steigert, so verdient er dafür keinen Tadel. Pflicht des Arztes war es, den Trunk zu verbieten, Pflicht des Kranken ist es, sich desselben zu enthalten. Was geht es das Gesetz an, daß die Sünde dadurch Anlaß bekam? Mehren ja doch manche schlechte Menschen ihre Schlechtigkeit gerade infolge guter Gebote. So hat auch der Teufel den Judas dadurch ins Verderben gestürzt, daß er ihn zum Geiz verleitete und zum Dieb von Armengeldern machte. Aber nicht die Tatsache, daß ihm der Geldbeutel anvertraut war, hat das bewirkt, sondern seine eigene schlechte innere Gesinnung. So hat auch die Eva den Adam veranlaßt, von dem Baume zu essen und ihn auf diese Weise aus dem Paradiese vertrieben. Aber nicht der Baum war schuld, wenn auch durch ihn der Anlaß dazu geboten war.
Wenn Paulus vom Gesetze manchen etwas harten Ausdruck gebraucht, so darf dich das nicht wundern. Er ist nämlich vor eine heikle Aufgabe gestellt; einerseits möchte er denen, die eine andere (d. i. falsche) Anschauung vom Gesetze haben, keine Handhabe bieten (über ihn herzufallen), andererseits gibt er sich große Mühe, den Gegenstand richtig darzustellen. Du darfst darum das hier Gesagte nicht nach dem Wortlaut neh- S. b225 men, sondern mußt den Grund in Betracht ziehen, der ihn so zu sprechen veranlaßte. Bedenke auch den Fanatismus der Juden und ihre beständige Eifersüchtelei, mit welchen der Apostel aufräumen möchte; er läßt darum manchmal das Gesetz hart an, nicht um es herabzuwürdigen, sondern um der Streitsucht der Juden ein Ziel zu setzen. Denn wenn es ein wirklicher Vorwurf gegen das Gesetz wäre, daß die Sünde dadurch einen Anlaß bekäme, so träfe das ja auch beim Neuen Bunde zu. Auch im Neuen Bunde gibt es eine große Anzahl von Geboten, und zwar in bezug auf wichtigere Dinge. Man sieht da dasselbe zutreffen nicht bloß wie dort, und zwar nicht bloß betreffs der Begierde, sondern betreffs jeder Sünde überhaupt. „Wenn ich nicht gekommen wäre und nicht zu ihnen gesprochen hätte“, heißt es, „hätten sie keine Sünde“ 1. Es hat also hier die Sünde Veranlassung bekommen und die größere Strafe. Und wiederum, wo Paulus von der Gnade spricht, sagt er: „Um wieviel härtere Bestrafung, meint ihr, werden die verdienen, welche den Sohn Gottes mit Füßen getreten haben?“ 2 So hat also auch hier die härtere Bestrafung ihre Begründung in der größeren Wohltat. Von den Heiden sagt derselbe hl. Paulus, sie seien deshalb nicht zu entschuldigen, weil sie, mit Vernunft begabt, die Schönheit der Schöpfung erkannten und sich hätten von dieser zum Schöpfer können führen lassen, aber aus der Weisheit Gottes nicht den gehörigen Nutzen zogen. Du siehst aus allen diesen Beispielen, daß für die Gottlosen der Anlaß zu schwerer Bestrafung gerade von guten Dingen ausgeht. Wir werden aber deswegen keineswegs den Wohltaten Gottes die Schuld geben, sondern wir werden sie auf das hin nur noch mehr anstaunen und die Sinnesart derer tadeln, die sie zum Gegenteil mißbraucht haben. So wollen wir es auch in bezug auf das Gesetz machen.
Doch das ist leicht verständlich und hat keine Schwierigkeit; dagegen liegt ein (scheinbarer) Widerspruch in folgendem: Wie kann Paulus sagen: Die Be- S. b226 gierde wäre nicht gewesen, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren? Wenn es keine (sündhafte) Begierde gab, bevor der Mensch das Gesetz empfangen hatte, woher kam dann die Sintflut? woher die Zerstörung Sodomas? — Was meint also Paulus? — Er meint einen hohen Grad von Begierde. Darum sagt er nicht: das Gesetz wirkte in mir Begierde, sondern: „jegliche Begierde“. Damit deutet er das Mehrwerden derselben an. — Welches ist nun der Gewinn vom Gesetze, wenn es die Leidenschaft nur steigert? fragt man. Keiner, sondern es hat viel Schaden gebracht. Aber darin liegt keine Anklage gegen das Gesetz, sondern gegen den Leichtsinn derer, die es empfangen hatten. Die Sünde selbst war wirksam geworden, aber durch das Gesetz. In der Absicht, warum das Gesetz gegeben war, lag dies aber nicht, sondern das Gegenteil. Mächtiger also war die Sünde geworden, will der Apostel sagen, und stark. Aber das ist wieder keine Anklage gegen das Gesetz, sondern gegen die Undankbarkeit der Juden.
„Denn ohne das Gesetz war die Sünde tot“,
d. h. nicht so zur Erkenntnis gekommen. Auch vor dem Gesetz erkannten zwar die Menschen, daß sie gesündigt hatten, aber eine klarere Erkenntnis davon bekamen sie, nachdem das Gesetz gegeben war. Darum standen sie (nachher) unter einer schärferen Anklage; denn es ist nicht das gleiche, die Natur (allein) als Anklägerin zu haben, und neben der Natur auch noch das Gesetz, welches alles offenbar macht.
V. 9: „Ich aber lebte einst ohne Gesetz.“
— Wann denn? Vor Moses. Beachte, wie der Apostel sich Mühe gibt, zu zeigen, daß das Gesetz sowohl in dem, was es leistete, wie auch in dem, was es nicht leistete, als schwere Last auf der menschlichen Natur lastete. Solange ich ohne Gesetz lebte, war ich mir nicht so schuldbewußt:
„als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf“
V. 10: „Ich aber starb.“
— Das scheint eine Anklage gegen das Gesetz zu sein; S. b227 wenn man es aber näher betrachtet, so ist es sogar ein Lob für dasselbe. Es hat ja der Sünde nicht das Dasein begeben, sondern sie, die im Verborgenen wucherte, offenbar gemacht. Das ist aber eigentlich ein Lob für das Gesetz. Denn vor ihm sündigten die Menschen unbewußt; als es aber gekommen war, erkannten sie wenigstens ganz klar, wenn sie schon keine andere Frucht davon hatten, daß sie gesündigt hatten. Das war aber schon ein beträchtlicher Schritt zur Befreiung davon. Daß es nicht zur wirklichen Befreiung von der Sünde kam, daran war nicht das Gesetz schuld, welches ja alles Mögliche dazu getan hatte, sondern die Sinnesart der Juden, die über alle Erwartung verderbt war.