2.
Damit du nun nicht glaubest, er wolle sie ihnen zum Gesetze machen, fügt er sogleich bei: „Dies aber sage ich als Zugeständnis und nicht als Befehl.“1 Es war also seinerseits keine autoritative Bestimmung, sondern ein ihrer Unenthaltsamkeit gemachtes Zugeständnis. Deshalb spricht er: „wegen eurer Unenthaltsamkeit“.2 — Wenn du Pauli wahre Ansicht kennenlernen willst, dann vernimm folgendes: „Ich möchte, daß alle Menschen lebten wie ich, nämlich in Enthaltsamkeit.“3 — So auch hier. Indem die Apostel ein Zugeständnis machten, wollten sie keineswegs für das Gesetz eine Lanze brechen, sondern einfach der jüdischen Schwachheit entgegenkommen. Wäre jenes ihre Absicht gewesen, S. 59 dann durften sie nicht den Juden so, den Heiden aber anders predigen. Denn wenn die betreffende Vorschrift4 für die Ungläubigen strenge verpflichtend war, dann sicherlich auch für die Gesamtheit der Gläubigen. Nun aber die Apostel entschieden, man dürfe den Heiden nicht damit lästig fallen, zeigten sie dadurch, daß auch ihr Zugeständnis an die Juden nur aus Entgegenkommen erfolgt war. Nicht so die falschen Brüder; diese wollten sie vielmehr ihrer Gnadenkindschaft berauben und wieder unter das Sklavenjoch zwingen. Das ist der erste gewaltige Unterschied zwischen beiden. Der zweite besteht darin, daß die Apostel nur in Judäa so verfuhren, wo eben das Gesetz in Geltung war, die falschen Brüder dagegen überall. Sie hatten ja ganz Galatien angesteckt. Daraus erhellt, daß sie nicht auf die Erbauung, sondern auf das Verderben des ganzen Volkes hinarbeiteten. Und (drittens) ist es etwas anderes, wenn von den Aposteln (die Beobachtung des Gesetzes) zugelassen, etwas anderes aber, wenn von den falschen Brüdern dafür geeifert wurde. — „Die sich unvermerkt eingedrängt hatten, um auszukundschaften unsere Freiheit, die wir in Christus Jesus haben.“ Siehe, auch den Namen „Kundschafter“ gebraucht er, um ihre Feindseligkeit zu brandmarken. Denn die Kundschafter schleichen sich zu keinem anderen Zwecke ein, als um die Verhältnisse der Gegner auszuforschen und Eroberung und Zerstörung für ihre Partei recht leicht zu machen. Ganz so haben jene damals gehandelt, welche sie in die alte Sklaverei zurückführen wollten. Auch daraus erhellt, wie grundverschieden die Apostel und diese Sorte von Leuten dachten. Die ersteren gaben nach, um die Leute unvermerkt aus der Sklaverei herauszuführen; die letzteren boten alles auf, um sie noch tiefer hineinzustürzen. Deshalb lagen sie scharf auf der Lauer und suchten herauszubringen, wer noch S. 60 die Vorhaut habe; wie das Paulus deutlich ausspricht, wenn er sagt: „die sich unvermerkt eingedrängt hatten, um auszukundschaften unsere Freiheit“. Er kennzeichnet ihre Hinterlist nicht bloß durch das Wort Kundschafter, sondern auch durch die heimliche und verstohlene Art, mit der sie sich eingeschlichen haben.
V. 5: „Welchen wir auch nicht für einen Augenblick nachgaben durch Unterwerfung.“
Siehe den Adel und die Kraft des Ausdruckes! Er sagt nicht: durch die Rede, sondern: durch die Unterwerfung. Jene wollten ja keine nützlichen Kenntnisse lehren, sondern unterwerfen und knechten. Deshalb gaben wir zwar den Aposteln nach, nie aber diesen Leuten. — „Damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbleibe“. Damit wir das, so meint er, was wir früher mit Worten gesagt haben, jetzt auch durch unsere Werke bekräftigen, nämlich: „Das Alte hat aufgehört, und alles ist neu geworden;“5 und: „Wenn einer in Christus lebt, dann ist er ein neues Geschöpf;“ und: „Denen, die sich beschneiden lassen, wird Christus nichts nützen.“6 Für diese Wahrheit standen wir ein und gaben keinen Augenblick nach. — Da sonach die Haltung der Apostel seiner eigenen schnurstracks zuwiderlief und die Frage berechtigt schien: Wie können jene denn solches vorschreiben? Siehe, wie geschickt er diesen Einwurf löst! Er gibt nicht den eigentlichen Grund für die Handlungsweise der Apostel an, nämlich ihre kluge Nachgiebigkeit. Dies hätte bei seinen Zuhörern schlecht gewirkt. Denn wer aus einer klug berechneten Maßregel Nutzen ziehen soll, darf den Grund derselben nicht wissen. Sobald dieser kund wird, ist es mit allem Nutzen vorbei. Darum muß zwar, wer die Maßregel in Anwendung bringt, sich des Grundes davon bewußt sein; aber wer daraus Gewinn schöpfen soll, darf ihn nicht wissen. — Zur größeren Deutlichkeit will ich ein Beispiel wählen, das auf unseren Gegenstand Bezug hat. Eben S. 61 dieser hl. Paulus, welcher die Beschneidung abzuschaffen bemüht war, wollte einmal den Timotheus als Prediger zu den Juden schicken. (Was tat er?) Er beschnitt ihn zuerst und dann schickte er ihn.7 Diese Handlungsweise sollte ihm bei seinen Hörern eine gute Aufnahme sichern. Und also kam er mit der Beschneidung, um die Beschneidung abzuschaffen. Aber um diesen Grund wußten Paulus und Timotheus allein, den Schülern wurde er nicht mitgeteilt. Denn wenn die Leute in Erfahrung gebracht hätten, daß er die Beschneidung nur angewendet habe, um die Beschneidung abzuschaffen, dann hätten sie die Predigt des Timotheus überhaupt nicht angehört, und der ganze Gewinn wäre zerronnen. So aber zogen sie aus ihrer Unkenntnis den größten Nutzen. Im Glauben nämlich, daß er aus Gehorsam gegen das Gesetz so handle, nahmen sie ihn freundlich und gerne auf, ihn und seine Lehre. Nachdem sie ihn aber aufgenommen und allmählich unterrichtet worden waren, standen sie von den alten Gewohnheiten ab. Das wäre gewiß nicht geschehen, wenn sie gleich anfangs den rechten Grund gewußt hätten. Denn in diesem Falle hätten sie ihn verabscheut, weil sie ihn verabscheuten, nicht auf ihn gehört, und weil sie nicht auf ihn hörten, wären sie im alten Irrtum verblieben. Um dies zu verhindern, enthüllte er den Grund nicht. — Deswegen erwähnt er auch hier nicht, was die Apostel zu ihrer Haltung veranlaßte, sondern gibt der Rede eine andere Wendung und schreibt:
V. 6: „Was aber die anbelangt, so da etwas zu sein schienen — (wer sie sonst waren, tut mir nichts zur Sache; Gott bringt Menschenansehen nicht in Anschlag) —.“
An dieser Stelle entschuldigt er die Apostel nicht nur nicht, im Gegenteile, er belastet die Heiligen noch recht schwer zugunsten der Schwachen. Der Sinn seiner Worte ist folgender: Mögen jene Beschneidung zulassen, S. 62 vor Gott haben sie dereinst Rechenschaft abzulegen; denn wenn sie gleich Geltung und Macht besitzen, so wird doch Gott kein Ansehen der Person kennen. Aber er spricht sich nicht so offen aus, sondern ist zurückhaltend in seinen Worten. Er sagt nicht: wenn sie die reine Lehre trüben oder gegen die Vorschrift predigen, wird sie Strafe und schwere Ahndung treffen. Kein derartiges Wort fällt. Er scheint aus Ehrfurcht ihre Person nur so zu berühren, indem er schreibt: „Was aber die anbelangt, so da etwas zu sein schienen — wer sie sonst waren.“ Er sagt auch nicht: „wer sie sonst sind“, sondern „waren“, um anzudeuten, daß sie schließlich selbst aufgehört haben, so zu lehren, da ja die reine Lehre überall zum Durchbruch gelangte. — Mit den Worten: „wer sie sonst waren“ meint er aber so: Wenn sie dies wirklich gelehrt haben, bleibt ihnen die Rechenschaft nicht erspart. Denn vor Gott haben sie sich zu verantworten, nicht vor Menschen.