4.
Siehst du die Lobsprüche auf die Männer der damaligen Zeit? Wir dagegen wollen uns nicht einmal einen Backenstreich, nicht einmal einen Schlag gefallen lassen, können weder Beschimpfung noch materiellen Verlust ertragen. Jene waren insgesamt von glühendem Eifer (für Christus) beseelt und legten in Kampf und Not Zeugnis für ihn ab; wir dagegen haben die Liebe zu Christus erkalten lassen. Wiederum sehe ich mich in die Notwendigkeit versetzt, über die gegenwärtigen Verhältnisse Klage führen zu müssen. Was soll ich tun? Ich möchte es nicht, aber ich bin dazu gezwungen. Ja, wenn es möglich wäre, durch Schweigen und Nichtreden über das, was ehemals geschehen ist, das verschwinden zu machen, was gegenwärtig geschieht, so müßte ich schweigen; wenn aber das Gegenteil stattfindet — durch unser Schweigen verschwindet es nicht nur nicht, sondern wird nur noch ärger —, so ist es unabweisliche Pflicht zu sprechen. Wer nämlich die Fehlenden rügt, der läßt — wenn er auch sonst nichts erzielt — sie wenigstens nicht ungestört in der Sünde fortfahren. Gibt es doch keine so schamlose und freche Seele, daß sie, wenn beständig Vorwürfe an ihr Ohr dringen, sich gar nicht daran kehrte, in ihrer großen Bosheit gar nicht nachließe. Denn auch in den Schamlosen, ja auch in den Schamlosen glimmt wenigstens S. 66 noch ein schwacher Funke von Scham. Gott hat eben die Scham (zu tiefst) hineingepflanzt in unsere Natur. Weil nämlich die Furcht (allein) nicht ausreichte, uns in Schranken zu halten, so hat er auch viele andere Mittel und Wege gefunden, um die Sünde zu verhüten; z. B. den Tadel seitens der Menschen, die Furcht vor den bestehenden Gesetzen, die Liebe zum Ruhme, das Streben nach Freundschaft. Denn all das sind Mittel und Wege zur Verhütung der Sünde. So manches schon, was aus Rücksicht auf Gott nicht geschah, ist aus Scham geschehen; und (so manches), was aus Rücksicht auf Gott nicht geschah, ist aus Menschenfurcht geschehen. Worauf es in erster Linie ankommt, ist, daß wir überhaupt die Sünde meiden; daß wir dies um Gottes willen tun, kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Denn warum treibt Paulus jene, die die Feinde bezwingen wollen, nicht durch die Gottesfurcht an, sondern durch den Hinweis auf Rache? „Denn wenn du dieses tust“, sagt er, „wirst du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln1.“ Zunächst kommt es ihm eben darauf an, daß die Tugend überhaupt geübt werde. — Es liegt also, wie gesagt, ein gewisses Schamgefühl in uns. Wir haben viele natürliche Anlagen zur Tugend; so z. B. werden wir alle von Natur aus zum Mitleid bewegt, und keine andere Anlage zum Guten haftet so fest in unserer Natur wie diese. Daher könnte man mit Recht auch die Frage aufwerfen, warum gerade diese Anlage so tief in unserer Natur wurzelt, daß wir leicht zu Tränen gerührt werden, daß wir uns leicht umstimmen lassen, daß wir leicht zu Erbarmen geneigt sind. Niemand ist von Natur aus frei vom Zorne2, niemand ist von Natur aus frei von eitler Ruhmsucht, niemand ist von Natur aus erhaben über Neid und Eifersucht: aber der Zug zum Mitleid liegt von Natur aus in allen, mag einer auch roh und unfreundlich sein. Was Wunder auch? Erbarmen wir uns ja selbst der Tiere! So unabweislich wohnt uns das Mitleid inne. Selbst beim Anblick eines hilflosen Löwen regt sich unser Gefühl; bei S. 67 unseresgleichen aber in viel höherem Grade. Sieh, wie viele Krüppel! Schon dies reicht hin, uns zum Mitleid zu bewegen. — An nichts hat Gott mehr Freude als an der Barmherzigkeit. Darum wurden die Priester, Könige und Propheten damit3 gesalbt; denn das Öl sollte für sie Sinnbild der Menschenfreundlichkeit Gottes sein. Weiters lernten sie daraus, daß der Vorgesetzte ein reicheres Maß von Mitleid haben müsse. Es zeigte an, daß der Hl. Geist aus Erbarmen über den Menschen herabkommen werde; denn Gott ist gegen die Menschen barmherzig und gütig. „Denn du erbarmst dich aller“, sagt die Schrift, „weil du alles vermagst (Weish. 11, 24.).“ Deshalb wurden sie mit Öl gesalbt. Denn das Priestertum hat Gott aus Barmherzigkeit gestiftet, die Könige wurden mit Öl (= Barmherzigkeit) gesalbt. Und wenn man einen Fürsten loben will, so kann man nichts nennen, was ihm so gut anstünde, als das Erbarmen. Denn Erbarmen zu üben, das ist das eigentliche Privilegium der fürstlichen Gewalt. — Beherzige, daß die Welt der göttlichen Barmherzigkeit ihr Bestehen verdankt, und ahme den Herrn nach! „Die Barmherzigkeit des Menschen erstreckt sich nur auf seinen Nächsten, die Barmherzigkeit des Herrn aber auf alles Fleisch4.“ Inwiefern auf alles Fleisch? Du magst Sünder nehmen oder Gerechte, alle sind wir auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen, alle genießen wir ihre Segnungen, selbst ein Paulus, selbst ein Petrus, selbst ein Johannes. Vernimm ihre eigenen Worte; es bedarf der unsrigen nicht. Was sagt nämlich der hl. Paulus? „Aber ich habe Barmherzigkeit gefunden, weil ich es unwissend tat5.“ Wie nun? Bedurfte er darnach keiner Barmherzigkeit mehr? Höre, was er spricht: „Reichlicher als sie alle habe ich gearbeitet; doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir6.“ Und von Epaphroditus berichtet er: „Er war S. 68 auch wirklich todkrank; allein Gott hat sich seiner erbarmt, und nicht nur seiner, sondern auch meiner, damit ich nicht Betrübnis über Betrübnis hätte7.“ Und wiederum spricht er: „Wir waren niedergedrückt über die Maßen, so daß wir sogar das Leben verloren gaben; ja wir hatten bei uns selbst bereits das Todesurteil gesprochen, damit wir nicht auf uns selbst vertrauten, sondern auf Gott, der aus so großen Todesgefahren uns errettet hat und auch fernerhin erretten wird8.“ Und abermals: „Ich ward gerettet aus dem Rachen des Löwen, und der Herr wird mich erretten9.“ Kurz, überall können wir finden, wie er sich dessen rühmt, daß er durch Barmherzigkeit gerettet wurde.
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Röm. 12, 20. ↩
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Statt ἀργός lies besser mit Dun. ἀόργητος. ↩
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Ein bei Chrysostomus beliebtes Wortspiel zwischen ἔλαιον (ἔλεον) = Öl und ἔλεος = Barmherzigkeit. Die ganze Stelle ist ziemlich verworren. ↩
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Ekkli 18, 12. ↩
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1 Tim. 1, 13. ↩
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1 Kor. 15, 10. ↩
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Phil. 2, 27. ↩
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2 Kor. 1, 8—10. ↩
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2 Tim. 4, 17. 18. ↩