I.
14. Strebet nach Frieden mit Allen und nach Heiligung, ohne welche Niemand Gott schauen wird.
Das Christenthum hat zwar viele Kennzeichen, aber vor allen andern behaupten den ersten Rang die gegenseitige Liebe und der Friede. Darum sagt auch Christus: „Meinen Frieden gebe ich euch.“1 Und wieder: „Daran werden Alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr euch lieb habet untereinander.“2 Weßhalb auch Paulus schreibt: „Strebet nach Frieden mit Allen und nach Heiligung, ohne welche Niemand Gott schauen wird.“ S. 456
15. Habet Acht, daß Keiner die Gnade Gottes versäume.
Er sagt gleich, als machten sie in zahlreicher Reisegesellschaft einen weiten Weg: sehet zu, daß ja Keiner zurückbleibe; denn ich suche nicht Das allein, daß ihr selbst kommet, sondern daß ihr auch auf die Andern schauet: „daß Keiner die Gnade Gottes versäume.“ Gnade Gottes nennt er die zukünftigen Güter, den Glauben an das Evangelium, den vollkommenen Wandel; denn diese sind sämmtlich eine Frucht der göttlichen Gnade. Wolle mir nun nicht sagen: Einer ist es, der zu Grunde geht. Auch um Eines Willen ist Christus gestorben. Willst du nun für Den keine Sorge tragen, um dessen willen Christus den Tod gelitten hat? Habet Acht, sagt er, d. h. forschet genau aus, untersuchet, bringet zu euerer Kenntniß, wie es gewöhnlich bei den Kranken geschieht, und prüfet in Allem: „Damit keine Wurzel der Bitterkeit aufwachse und hinderlich sei.“ Diese Stelle steht im Deuteronomium,3 und es ist dieser bildliche Ausdruck von den Pflanzen entlehnt: „Damit keine Wurzel der Bitterkeit“ ..., was er auch an einer andern Stelle in den Worten sagt: „Wisset ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert“?4 Nicht nur um deßwillen allein, sagt er, will ich Dieß, sondern auch des Schadens halber, der daraus entsteht, d. h. wenn auch eine derartige Wurzel vorfindig ist, so laß’ sie kein Gewächs hervortreiben, sondern rotte sie aus, damit sie keine ihrer Natur entsprechenden Früchte trage, damit sie nicht die andern beflecke und verderbe: „Damit keine Wurzel der Bitterkeit aufwachse und hinderlich sei, und dadurch Viele verunreinigt werden.“ Und mit Recht hat er S. 457 die Sünde „bitter“ genannt; denn Nichts ist in Wahrheit bitterer als die Sünde. Das wissen Diejenigen, welche nach vollbrachter That durch Gewissensbisse große Bitterkeit ausstehen; denn durch das Übermaaß ihrer Bitterkeit bringt sie selbst den Verstand in Verwirrung. So ist die Natur dieser Bitterkeit beschaffen, - sie ist nichtswürdig. Und treffend sagt er: „Wurzel der Bitterkeit;“ er sagt nicht: „bittere Wurzel“, sondern: „Wurzel der Bitterkeit;“ denn es ist möglich, daß einer bittern Wurzel süße Früchte entsprossen; aber die Wurzel der Bitterkeit, die da die Quelle und Grundlage ist, kann nie und nimmer eine süße Frucht hervorbringen; denn da ist Alles bitter, Nichts süß, Alles widrig, Alles unangenehm, Alles voll Abscheu und Eckel. „Und dadurch Viele verunreinigt werden,“ d.h. damit Dieß nicht geschehe, stoßet die Ausschweifenden aus.
16. Daß nicht Jemand ein Unzüchtiger oder Verächter des Heiligen sei, wie Esau, der um eine einzige Speise seine Erstgeburt verkauft hat.
Und wo war denn Esau ein Unzüchtiger? Er sagt hier nicht, daß Esau Unzucht getrieben, sondern diese Worte stehen im Gegensatze zu jenen: „strebet nach Heiligung;“ der Ausdruck: „Verächter des Heiligen“ findet aber auf ihn seine Anwendung. Keiner sei also, wie Esau, ein Verächter des Heiligen, d. h. er sei kein Vollesser, kein Ausschweifling, kein Weltmensch, kein Verkäufer geistiger Güter: *„der um eine einzige Speise seine Erstgeburt verkauft hat,“ d. h. der die ihm von Gott verliehene Ehre aus eigener Verkommenheit preisgab, und eines unbedeutenden Vergnügens wegen die größte Ehre und den höchsten Ruhm verlor. Das bezieht sich auf Jene, deren Leben häßlich und unrein ist. Also nicht allein der Unzüchtige ist unrein, sondern auch der Schlemmer, der S. 458 ein Knecht des Bauches ist; denn auch Dieser ist der Sklave einer andern Lust, und wird gezwungen zur Habsucht. zum Raube und zu unzählichen Schandthaten, - da er im Dienste jener Leidenschaft steht, - und stößt oft Lästerungen aus. Dieser hielt seine Erstgeburt für werthlos, weßhalb er auch für sein zeitliches Wohlbehagen sorgte, und bis zum Verkaufe seiner Erstgeburt gebracht wurde, so daß die Erstgeburt nunmehr uns und nicht den Juden zugehört. Zugleich trägt auch noch zu ihrer Betrübniß die hier gegebene Andeutung bei, daß der Erste der Letzte, und der Zweite der Erste geworden, und zwar Dieser der Erste durch seine Beharrlichkeit, Jener aber der Letzte durch seine Fahrlässigkeit.
17. Denn ihr wisset, daß er auch nachher, als er den Segen erben wollte, verworfen wurde; denn Sinnesänderung (Buße) erlangte er nicht, obwohl er sie mit Thränen suchte.
