22. Paulus der Einfältige.
Kronius und der heilige Hierax und mehrere andere haben auch folgendes erzählt:
Paulus, ein Bauersmann, ungemein tugendhaft und von überaus großer Einfalt des Herzens, war mit einem sehr schönen, aber sittenlosen Weibe vermählt, das lange Zeit ohne sein Wissen ein sündhaftes Leben führte. Weil sich aber Gottes Vorsehung dieses Umstandes zum Besten für Paulus bedienen wollte, führte sie diesen eines Tages unerwartet vom Felde heim, und er überraschte sein Weib, wie sie mit ihrem Buhlen Schändliches tat. Da fing er eigentümlich zu lachen an und rief den beiden zu: "Gut! Gut! Mir liegt wahrhaftig nichts daran. Bei Jesu schwör' ich es, daß ich sie nimmer berühre. Geh' nur und nimm sie samt ihren Kindern; ich wandere fort und werde Mönch." Und ohne jemand ein Wort zu sagen, begab er sich zu den acht S. 368 Klöstern, dann zum seligen Antonius und schlug an dessen Tür. Antonius trat hinaus und fragte: "Was willst du?" Paulus sagte: "Mönch will ich werden." Da gab Antonius zur Antwort: "Du bist ein Greis von sechzig Jahren und kannst darum nicht Mönch werden. Kehre lieber in dein Dorf zurück und führ' ein gottgefälliges und arbeitsames Leben! Das rauhe Wüstenleben ist zu schwer für deinesgleichen." Der Greis entgegnete: "Befiehl nur, was du willst! Ich tu' alles." Antonius dagegen: "Ich hab' es dir schon gesagt; du bist ein Greis und kannst nicht; aber wenn du durchaus Mönch werden willst, dann geh' in ein Kloster; da sind mehr Mönche beisammen; die können leichter Nachsicht üben mit deiner Schwäche. Denn ich bin allein und warte stets fünf Tage, bis ich Speise nehme, und esse mich dann nicht einmal satt." Er suchte mit solcherlei Reden ihn abzuschrecken, schloß endlich die Türe vor ihm und trat seinetwegen drei Tage lang nicht heraus, nicht einmal um der natürlichen Bedürfnisse willen. Paulus aber wich keineswegs von der Stelle. Da nun Antonius am vierten Tage nicht umhin konnte, die Zelle zu verlassen, sprach er neuerdings: "Zieh' deines Weges, alter Mann! Was quälst du mich denn? Du kannst ja doch nicht dableiben." Paulus erwiderte: "Mir ist es gleichgültig, wo ich sterben muß, da oder anderswo." Wie nun Antonius sich umsah, nahm er wahr, daß der Fremde weder Brot noch andere Nahrung, nicht einmal Wasser bei sich trug, also bereits den vierten Tag nüchtern aushielt. Darum ließ er ihn eintreten, indem er sagte: "Du könntest sterben und ich bekäme dann ein Schandmal auf die Seele." Während jener Tage führte nun Antonius eine so strenge Lebensweise, wie nicht einmal in seiner Jugend. Er tauchte Palmzweige in Wasser und sagte: "Da nimm und hilf mir Stricke flechten!" Der Greis begann zu flechten und mühsam flocht er fünfzehn Klafter1 bis um die neunte Stunde. Da trat Antonius hinzu, musterte die Arbeit und war nichts weniger als zufrieden. "Schlecht geflochten!" sprach er, "das alles S. 369 trennst du wieder auf, um es nochmal zu flechten." So tat er, um den Greis, der noch immer nüchtern war, unwillig zu machen und zu vertreiben. Paulus trennte nun alles auf und flocht es zum zweiten Male mit noch größerer Mühe, weil die Zweige nun verbogen und zerknittert waren. Daß er weder seufzte noch mißmutig und verdrossen war, änderte den Sinn des Antonius. Er sprach deshalb bei Sonnenuntergang: "Sollen wir vielleicht ein Stücklein Brot essen?" Paulus sagte: "Wie du willst, Vater." Daß er nicht sofort zum Essen sich anschickte, sobald er davon hörte, sondern dem Antonius die Wahl ließ, gewann ihm noch mehr dessen Herz. Dieser stellte nun den Tisch zurecht, brachte Brote, die geröstet waren, ein jedes zu sechs Unzen, und machte für sich selber eines im Wasser feucht, für Paulus dagegen drei. Er stimmte darauf einen Psalm an, den er auswendig wußte, sang ihn zwölf Mal und fügte zwölf Gebete bei, um Paulus auf die Probe zu stellen. Doch dieser betete geduldig mit; denn er hätte, wie mir scheint, lieber Skorpionen gehütet2 als mit einem ehebrecherischen Weibe zusammengelebt. Nach den zwölf Gebeten setzte man sich endlich. Es war schon am späten Abend. Antonius aß das eine Brot; ein zweites nahm er nicht. Der Greis indessen aß langsamer und war mit dem ersten noch nicht fertig. Antonius wartete, bis er am Ende war, und sagte sodann: "Iß noch ein Brot, Vater!" Paulus erwiderte: "Wenn du issest, will auch ich essen; willst du dagegen nicht, so will ich gleichfalls nicht." Antonius sagte: "Mir genügt es, ich bin ja Mönch." Paulus darauf: "Mir ebenso, denn ich will es werden." Nun erhob sich Antonius, sprach wieder zwölf Gebete, sang wieder zwölf Psalmen, schlief sodann kurze Zeit, erhob sich um Mitternacht und oblag dem Psalmengebete bis Tagesanbruch. Weil er sah, daß der Greis unverdrossen alles mitmachte, sprach er zu ihm: "Wenn du Tag um Tag so leben kannst, bleib' bei mir!" Paulus sprach: "Ich weiß nicht, ob du mir mehr befehlen wirst; was ich bisher gesehen habe, kann ich leicht tun." Da gab ihm Antonius zur Antwort: "Siehe, nun bist du Mönch!"
S. 370 Nach einigen Monaten, als sich Antonius überzeugt hatte, wie vollkommen und einfältig seine Seele mit Gottes Gnade war, machte er ihm, drei bis vier Meilen weit entfernt, eine Zelle und sprach: "Siehe, du bist nun Mönch. Bleib jetzt allein, damit auch die Teufel dich erproben!" Dort wohnte Paulus ein Jahr und es ward ihm Macht gegeben, böse Geister auszutreiben und Kranke zu heilen. So brachte man einst dem Antonius einen Menschen, der von einem Teufel hohen Ranges besessen war; dieser böse Geist stieß Lästerungen sogar wider den Himmel aus. Antonius hörte das und sagte zu denen, die den Menschen herbeigeführt hatten: "Das ist kein Geschäft für mich, denn über diese Rangstufe der Teufel ist mir noch keine Gewalt verliehen; das ist etwas für Paulus." Dann begab er sich zu diesem und sagte: "Vater Paulus, treibe diesen Teufel aus dem Menschen, damit er gesund nach Hause gehe!" Paulus entgegnete: "Warum tust du das nicht selbst?" Antonius darauf: "Ich habe keine Zeit: ich hab' anderes zu tun." Und er ging hinweg nach seiner eigenen Zelle. Nun erhob sich der Greis, betete mit aller Kraft und sagte zu dem Besessenen: "Vater Antonius gebietet dir auszufahren von diesem Menschen!" Da fing der Teufel zu lästern an und rief: "Ich gehe nicht, du alter Taugenichts!" Da nahm Paulus seinen Schafpelz, schlug ihn damit auf den Rücken und sprach: "Ausfahren sollst du, gebietet Vater Antonius." Da schmähte der Teufel über Antonius und ihn selbst noch ärger. Endlich sagte Paulus: "Heb' dich fort! Sonst - so wahr Christus lebt! - geh' ich und sag' es ihm. Er kann dich gewaltig züchtigen." Da fing der Teufel neuerdings an zu lästern und schrie: "Nein, ich gehe nicht!" Nun wurde Paulus zornig auf den bösen Geist und verließ seine Herberge genau zur Mittagzeit. Ägyptens Sonnenhitze gleicht aber dem Feuerofen Babylons.3 Er stellte sich auf einen Felsen des Gebirges und betete: "Jesu Christe, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, du sollst sehen, daß ich von diesem Felsen nicht S. 371 herabsteige, daß ich weder essen noch trinken werde, bis ich zugrunde gehe, wenn du diesen Menschen nicht befreiest und den Teufel austreibst." Er hatte noch nicht ausgeredet, da schrie schon der böse Geist: "Wehe! nun muß ich fort. Der einfältige Paulus treibt mich von dannen. Wohin soll ich gehen?" Augenblicklich fuhr der Teufel aus und verwandelte sich in einen ungeheuren, siebzig Fuß langen Drachen, der in das Rote Meer fuhr, so daß jener Ausspruch in Erfüllung ging: "Den Glauben, der sich offenbart, verkündet der Gerechte".4 Ein solches Wunder wirkte Paulus, den alle Brüder den Einfältigen nannten.