§ 3.
1) Auf den Einwand, warum dann bloß das israelitische Volk der Offenbarung teilhaft wurde, ist zu erwidern, daß man die Verirrung der andern Völker nicht den über sie gesetzten Engeln schuldgeben dürfe, sondern den Fehlern der Völker selbst zuschreiben müsse. Ein Beweis hiefür ist der Vorwurf, der selbst dem auserwählten Volke Gottes gemacht wurde. 2) Die Menschen haben ihren freien Willen; der Strahl der Erleuchtung wird nicht in sich verdunkelt, sondern tritt entweder gar nicht in das geistige Auge ein, falls es keine Empfänglichkeit besitzt, oder teilt sich in verschiedener Stärke mit, je nachdem dasselbe mehr oder weniger gut disponiert ist. 3) Auch die heidnischen Völker, welchen der Verfasser ehedem angehörte, hatten nicht fremde Götter zu ihren Vorstehern; es gibt vielmehr nur einen Ursprung von allem und zu dem führten alle Engel empor. So z. B. ist Melchisedech ein Hierarch des wahren Gottes; er heißt „Priester“ (Gottes), um anzudeuten, daß er nicht bloß für seine Person sich zu Gott wandte, sondern auch andere zu Gott führte.
Wenn aber jemand sagen sollte: „Aber wie ward dann das Volk der Hebräer allein zu den urgöttlichen Strahlen emporgeführt?“, so ist zu erwidern, daß man nicht die zielgerechte Vorstandschaft der Engel für die Abirrung der andern Völker zu den falschen Göttern, sondern jene Völker selbst verantwortlich machen soll, weil sie durch die eigenen Triebe von dem geraden, zu Gott führenden Aufstieg abgewichen sind, nämlich durch ihre Selbstsucht, Vermessenheit und die dem entsprechende Verehrung dessen, was ihnen als Göttliches erschien. Ist es doch sogar vom Volke der Hebräer bezeugt, daß es dieses (Unglück) erlitten hat. Denn es sagt Gott: „Die Kenntnis Gottes hast du verworfen und bist deinem Herzen nachgewandelt“ 1. Das Leben, das wir haben, S. 54 ist nämlich nicht dem Zwange unterworfen und wegen der Willensfreiheit derer, welche Gegenstand der Vorsehung sind, wird das göttliche Licht der von der Vorsehung ausgehenden Einstrahlungen nicht verdunkelt, sondern entweder macht die heterogene Beschaffenheit der geistigen Augen die Teilnahme an der übervollen Lichtspendung der väterlichen Güte ganz unmöglich und läßt sie vergeblich abprallen, oder sie bewirkt verschiedene Grade der Mitteilung, kleine oder große, dunkle oder helle des einen und einfachen Strahls, der in seiner Quelle immer sich gleichbleibt und übereinfach ist. Denn auch über die andern Völker — aus welchen auch wir 2 zu jenem unermeßlichen und reichen Ocean des göttlichen Lichtes uns emporrichteten 3, der für alle zur willigen Mitteilung ausgebreitet ist — regierten nicht fremdländische Götter. Es gibt vielmehr nur ein Urprinzip von allem und zu diesem führten die Engel, welche in jeglichem Volke die Hierarchie innehatten, alle empor, die ihnen folgen wollten. Was den Melchisedech betrifft, so muß man in ihm einen gottliebenden Hierarchen nicht der falschen Götter, sondern des wahrhaft seienden, höchsten Gottes erkennen, denn die Gotteskundigen nennen ihn nicht bloß einfachhin Freund Gottes, sondern auch Priester, um den verständigen (Lesern) anzudeuten, daß er nicht bloß für sich allein dem wahren Gotte sich zugewendet hatte, sondern auch andere als ein Hierarch in der Emporführung zur wahren und einzigen Urgottheit leitete 4.
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Das Schriftzitat ist zusammengesetzt aus Os, 4, 6 (Scientiam reppulisti) und Jerem. 7, 24 (abierunt,… in pravitate cordis sui mali). ↩
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Hier bekennt D. seine frühere Zugehörigkeit zum Heidentum. In Verbindung mit andern Stellen, besonders d. d. n. 3, 2 dient diese persönliche Bemerkung der Fiktion, daß der Verfasser der Areopagita sei. ↩
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Zum bemerkenswerten Ausdruck τοῦ θεαρχικοῦ φωτὸς ἄπειρόν τε καὶ ἄφθονον πέλαγος vergleiche man Greg. v. Naz. or. 38, 7 und 45, 3. (M. 36, 317; 625) οἳὸν τι πέλαγος οὐσίας ἄπειρον καὶ ἀόριστον … τοσαῦτα περιλάμπον … Basilius c. Eunom. 1, 16 (M. 29, 5348 C) spricht vom göttlichen Wesen als einem πέλαγος ζωῆς. ↩
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Genes. 14, 18; Ps. 109, 4; Hebr. 7, 1. ↩