Einleitung
S. 161 Zur nähern Beurteilung des vorliegenden achten Briefes des Ps.-Dionysius sei auf meinen Artikel in der Innsbrucker theologischen Zeitschrift (XXIV 1900, S. 657 bis 671) verwiesen. Ich wiederhole daraus nachstehende Bemerkungen. Daß der Brief dem gleichen Verfasser angehört, der die bekannten Abhandlungen über „Göttliche Namen“, „Himmlische und Kirchliche Hierarchie“ und „Mystische Theologie“ geschrieben hat, steht außer Zweifel, da das Sprach- und Gedankengut derselben mit den im Briefe hervortretenden Eigentümlichkeiten durchaus verwandt ist. Allerdings hat der Brief einen ganz individuellen, praktischen Zweck, wodurch sein konkreter, pastoraler Charakter bestimmt ist, Dionysius schreibt an einen Mönch, den er selbst zum Therapeuten geweiht hat, im Tone eines belehrenden, rügenden und mahnenden Vaters, nachdem dieser „Therapeute“ sich zu einem rohen Gewaltakt gegen einen Priester und dessen Pönitenten hatte hinreißen lassen. Nun ist aber die Ausführung im Briefe übermäßig breit gehalten. Die Argumente, aus Beispielen und Worten der Heiligen Schrift, aus der vernunftgemäßen Betrachtung der Sache, aus der unverrückbaren hierarchischen Ordnung in der Engel- und kirchlichen Welt und insbesondere aus dem Benehmen des Herrn Jesus Christus entnommen, häufen, beziehungsweise wiederholen sich in ungewöhnlicher Fülle. Ihre Anordnung verrät eine bewußte Steigerung und ist mit entsprechender Mannigfaltigkeit der Affekte verbunden. So sehr der Charakter persönlicher Ansprache an den Adressaten gewahrt bleibt, um ihm sein S. 162 großes Unrecht vorzuhalten, so legt sich doch die Vermutung nahe, daß der Brief einen universellen Zweck verfolgt und eigentlich an die gesamte Mönchswelt jener Zeit (im Verlaufe des 5. Jahrh.) gerichtet ist. Im Hintergrund des einzelnen Falles öffnet sich die lehrreiche Perspektive in die großen Unruhen, die im 5. Jahrhundert zwischen den kirchlichen Ständen, den Mönchen einerseits und den Bischöfen und Priestern anderseits, ausgebrochen waren. Die nach Tausenden zählenden Laienmönche von Palästina, Syrien und Ägypten spielten in den Kämpfen des Nestorianismus und Monophysitismus eine bedeutsame Rolle. Sie repräsentierten nach der orthodoxen wie nach der häretischen Seite eine gewaltige Hilfsmacht; was ihnen an theologischer Wissenschaft abging, ersetzte der orientalisch aufflammende Eifer mit Stöcken und Fäusten. Als nun die Politik der Kaiser Zenon und Anastasius I. sich bemühte, vermittels des berüchtigten Henotikon einen friedlichen Kompromiß zwischen den Streitenden zu schließen, ließen sich Bischöfe und Kleriker jener Provinzen rascher für den Unionsversuch gewinnen als die Mönche, die zähe an dem Alten festhielten. Es galt also, die Opposition auch von dem Grundsatz aus zurückzuweisen, daß der Mönch sich überhaupt in den Schranken seines demütigen Standes halten müsse. Er frevelt, wenn er die hierarchische Ordnung antastet und über die Glieder einer höhern Stufe richten will. So werden die kategorischen Schlußworte des Briefes, die zunächst dem einzelnen Mönch Demophilus gelten, in das entsprechende Licht gerückt, um die weitausgebreitete kirchenpolitische Strömung zu beleuchten: „Das alles sei dir von uns gesagt, damit du wissest und tuest, was deines Standes ist,1 — Der Kaiser Marcian mahnt in seinem Schreiben an die Äbte und Mönche S. 163 von Palästina, daß sie die Ruhe nicht stören, in der Unterordnung unter dem Priesterstand verbleiben und nach dessen Lehren sich richten sollten. Statt dessen hätten die Mönche die Ordnung umgekehrt und sich die Stellung der Lehrenden angemaßt.2 Ob es sich bei Demophilus um ein wirkliches Faktum handelt oder um einen fingierten Fall als Typus analoger Fälle, ist hier unwesentlich; in dem tadelnswerten Benehmen des einen spiegelt sich die Tendenz des Standes. Wie die Anklage des Briefes trägt auch Belehrung und Mahnung den doppelten Charakter des Individuellen und des Typischen. Der Umstand, daß Demophilus von Dionysius in den Mönchsstand eingeweiht wurde, gibt dem Weihepriester Gelegenheit, zunächst weichere Töne anzuschlagen, aber die ernsten, wuchtigen, zürnenden Vorstellungen überwiegen dermaßen, daß man sich fragen muß, ob für den einen Fehltritt ein solcher Aufwand von Argumenten und Affekten erforderlich sei. Hingegen läßt es sich wohl begreifen, daß unter Voraussetzung, der ganze Mönchsstand sei der Adressat, das rechte pädagogische Maß keineswegs überschritten ist. Und wenn Demophilus sich mit den lebhaften, Röm. 2, 19—23 nachgebildeten Gegenfragen verteidigt, so glaubt man fast den Widerhall jener lärmenden Rufe zu vernehmen, welche aufgeregte Mönchsscharen gegen mißliebige Priester ausstießen, „Die Priester können doch nicht mehr Offenbarer Gottes sein, nicht dem Volke die göttlichen Kraftwirkungen verkünden, deren Wesen und Wert sie nicht kennen? Wie wollen sie, der höheren Erleuchtung unteilhaftig, andere erleuchten? Wie können sie das Pneuma mitteilen, da sie von der Existenz des Heiligen Geistes nicht durchdrungen sind?“ Demophilus hat sich die landläufigen Vorwürfe der Mönche gegen die Priester zu S. 164 eigen gemacht und seinem Stande die charismatischen Gaben vindiziert. Die im Besitze des Pneuma befindlichen Mönche nehmen das Recht in Anspruch zu predigen, das Bußsakrament zu verwalten und in den christologischen Streitigkeiten mitzureden.3
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Τοσαῦτά σοι παρ’ἡμῶν ὑπὲρ τοῦ εἰδέναι καὶ δρᾶν τὰ ἑαυτοῦ M. III 1093 C. ↩
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διδασκάλων τάξιν ὑπὸ τῆς ἄγαν αὐθαδείας ἑαυτοῖς ἐπρονοήσατε Mansi VII 488 C; vgl. VII 489. Über den tollwütigen Mönch Theodosius. S. l. c. 513 C u. a. ↩
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Die lehr- und umfangreichen „Untersuchungen zur griechischen Laienbeicht“ von Dr. Jos. Hörmann (Donauwörth 1913) verbreiten, auf vorausgehende Arbeiten gestützt, ein merkwürdiges Licht über die Eingriffe der Mönche ins kirchliche Bußwesen, die Bedeutung des πατὴρ πνευματικός, die Konkurrenz zwischen pneumatischem Mönchtum und hierarchischem Priestertum, die enthusiastische und praktische Linie bis zu ihren Höhepunkten u. a. Ebenda ist auch auf den wohl zu beachtenden Brief an Demophilus hingewiesen und konstatiert, daß mehr als ein Demophilus in der Folgezeit sich hervorgetan hat. (S. 273 f.) ↩