XXX. KAPITEL. Vom Vorherwissen und Vorherbestimmen.
Man muß wissen, daß Gott alles vorherweiß, aber nicht alles vorherbestimmt. Er weiß vorher, was in unserer Macht steht, aber er bestimmt es nicht vorher. Er will ja nicht, daß die Schlechtigkeit geschehe, noch erzwingt er die Tugend. Daher ist die Vorherbestimmung ein Werk des auf Vorherwissen beruhenden Befehles Gottes. Er bestimmt aber das, was nicht in unserer Macht steht, gemäß seinem Vorherwissen voraus. Denn kraft seines Vorherwissens hat Gott bereits alles nach seiner Güte und Gerechtigkeit vorausentschieden.
Man muß wissen, daß die Tugend von Gott in die Natur gegeben wurde, daß er selbst Prinzip und Ursache S. 109 alles Guten ist, und daß wir ohne seine Mitwirkung und Hilfe unmöglich Gutes wollen oder tun können. In unserer Macht aber steht es, entweder in der Tugend zu verharren und Gott zu folgen, der dazu ruft, oder von der Tugend abzugehen, d. i. sich dem Bösen hinzugeben und dem Teufel zu folgen, der ohne Zwang dazu ruft. Denn das Böse ist nichts anderes als ein Zurückweichen vom Guten, wie die Finsternis ein Zurückweichen vom Licht. Bleiben wir also im Naturgemäßen, so sind wir in der Tugend. Weichen wir aber vom Naturgemäßen oder von der Tugend ab, so kommen wir ins Naturwidrige und fallen ins Böse.
Bekehrung ist die Rückkehr vom Naturwidrigen zum Naturgemäßen und vom Teufel zu Gott durch Übung und Mühen.
Der Schöpfer hat den Menschen als Mann geschaffen, er hat ihm seine göttliche Gnade mitgeteilt und durch diese ihn in Gemeinschaft mit ihm gebracht. Deshalb hat er auch wie ein Herr den ihm gleichsam als Diener zugewiesenen Tieren prophetisch die Namen gegeben 1. Denn da er nach Gottes Bild vernünftig und denkend und frei geschaffen ward, hat er mit Recht die Herrschaft übers Irdische vom gemeinsamen Schöpfer und Herrn aller Dinge empfangen.
Da aber der vorauswissende Gott wußte, daß er sich der Übertretung [des Gebotes] schuldig machen und dem Verderben verfallen werde, schuf er aus ihm ein Weib, eine Gehilfin für ihn, ihm entsprechend 2. Eine Gehilfin, um nach der Übertretung das Geschlecht durch eine mittels Zeugung zu erzielende Nachkommenschaft zu erhalten. Die ursprüngliche Bildung heißt Erschaffung (γένεσις) (genesis) und nicht Zeugung (γέννησις) [gennēsis). Erschaffung ist die ursprüngliche Bildung durch Gott, Zeugung aber ist die kraft des Todesurteils wegen der Übertretung erfolgte Abstammung voneinander.
Diesen (═ den ersten Menschen) versetzte er ins Paradies, das sowohl geistig als sinnlich war. Denn in dem sinnlichen [Paradies] lebte er auf Erden dem S. 110 Körper nach, der Seele nach aber verkehrte er mit den Engeln, bebaute göttliche Gedanken und nährte sich mit diesen. Nackt ob der Einfachheit und des ungekünstelten Lebens, erhob er sich durch die Geschöpfe zum alleinigen Schöpfer und erfreute und ergötzte sich in seiner Betrachtung.
Da er ihn von Natur mit freiem Willen ausgestattet, gab er ihm ein Gebot, vom Baume der Erkenntnis nicht zu kosten 3. Von diesem Baume haben wir im Kapitel vom Paradies, so gut wir es vermochten, zur Genüge gesprochen. Dieses Gebot gab er ihm mit der Verheißung, er werde, wenn er die Würde der Seele bewahre, der Vernunft den Sieg lasse, den Schöpfer anerkenne und dessen Befehl beachte, die ewige Seligkeit erlangen und, dem Tode überlegen, leben in Ewigkeit. Wenn er aber die Seele dem Leibe unterordne und die Lüste des Leibes vorziehe, nachdem er seine Ehre verkannt und, den unvernünftigen Tieren gleich geworden 4, das Joch des Schöpfers abgeschüttelt und sein göttliches Gebot mißachtet, so werde er dem Tode und Verderben verfallen, der Mühsal unterworfen werden und ein elendes Leben führen. Denn es war zum Vorteil, daß er nicht ohne Erprobung und Bewährung die Unsterblichkeit erlangte, nämlich um nicht in Hochmut und ins Gericht des Teufels zu fallen 5. Denn infolge der Unsterblichkeit ist jener nach seinem freiwilligen Fall unwiderruflich und unabänderlich im Bösen gefestigt. Andrerseits sind die Engel, nachdem sie freiwillig die Tugend erwählt, durch die Gnade unbeweglich im Guten gegründet.
Es sollte sich also der Mensch zuerst bewähren — ein ungeprüfter, unbewährter Mann ist keines Wortes wert 6 —, in der Prüfung durch Haltung des Gebotes vollkommen werden und so die Unsterblichkeit als Kampfpreis der Tugend davontragen. Denn, zwischen Gott und die Materie gestellt, sollte er durch Beobachtung des Gebotes, nachdem er sein natürliches S. 111 Verhältnis zu den Dingen aufgegeben, zur möglichsten Gotteinigung kommen und die unerschütterliche Festigkeit im Guten erlangen. Da er sich aber durch die Übertretung vielmehr zur Materie hingewendet und seinen Geist von seiner Ursache, von Gott, losgerissen, so sollte er dem Verderben anheimfallen, leidensvoll statt leidenslos, sterblich statt unsterblich werden, Paarung und flüssige Zeugung brauchen, sich aus Verlangen nach dem Leben an die Annehmlichkeiten hängen, gleich als könnten diese es enthalten, die aber, die ihn dieser berauben wollen, ungescheut hassen, die Zuneigung von Gott auf die Materie und den Zorn vom wirklichen Feind des Heiles auf den Geschlechtsgenossen (Mitmenschen) übertragen. „Durch den Neid des Teufels 7“ also ward der Mensch besiegt. Denn nicht ertrug es der neidische, das Gute hassende Dämon, daß wir das Obere (═ den Himmel) erlangen, nachdem er wegen seiner Erhebung hinabgestürzt war. Darum betrügt auch der Lügner 8 den Unglücklichen, indem er ihm Hoffnung auf Gottsein macht, führt ihn zur eigenen Höhe des Hochmuts hinauf und stürzt ihn dann in den gleichen Abgrund des Verderbens hinab.