II. KAPITEL. Von der Empfängnisweise des Wortes und seiner göttlichen Fleischwerdung.
Ein Engel des Herrn ward zur heiligen Jungfrau, die aus Davids Stamm entsprossen, gesandt 1. „Es ist S. 115 ja wohlbekannt, daß unser Herr aus Judäa hervorgegangen, einem Stamme, von dem niemand Dienst am Altare getan 2“, wie der göttliche Apostel sagt. Darüber wollen wir später ausführlicher reden. Dieser (═ der Jungfrau) brachte er auch frohe Botschaft und sprach: „Sei gegrüßt, Begnadigte, der Herr ist mit dir 3.“ Sie aber wurde infolge des Wortes verwirrt, doch der Engel sprach zu ihr: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden beim Herrn, du wirst einen Sohn gebären und seinen Namen Jesus nennen 4.“ „Denn er wird sein Volk von seinen Sünden erretten 5.“ Deshalb wird auch das Wort Jesus mit Retter übersetzt. Sie aber war in großer Verlegenheit: „Wie wird mir das geschehen, da ich keinen Mann erkenne 6?“ Wiederum sprach der Engel zu ihr: „Der Hl. Geist wird auf dich herabkommen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Darum wird auch das Heilige, das aus dir geboren wird, Sohn Gottes genannt werden 7.“ Sie aber sprach zu ihm: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Worte 8.“
Nach der Zustimmung der heiligen Jungfrau kam also der Hl. Geist über sie gemäß dem Worte des Herrn, das der Engel gesprochen, und reinigte 9 sie und gab ihr die zur Aufnahme der Gottheit des Wortes, zugleich aber auch die zum Erzeugen gehörige Kraft. Und damals überschattete sie die persönliche Weisheit und Macht Gottes, des Höchsten, der Sohn Gottes, der dem Vater wesensgleich ist, wie ein göttlicher Same und bildete sich aus ihrem heiligen und reinsten Blute Fleisch, von einer vernünftigen und denkenden Seele belebt, als Erstling unseres Teiges 10, nicht samenhaft, sondern schöpferisch S. 116 durch den Hl. Geist. Nicht durch allmähliches Hinzukommen bildete sich die Gestalt, sondern sie ward auf einmal vollendet. Das Wort Gottes selbst wurde ja für das Fleisch die Hypostase. Denn nicht mit einem Fleische, das vorher für sich selbst existierte, vereinigte sich das göttliche Wort, sondern es wohnte dem Schoße der heiligen Jungfrau inne und bildete, ohne in seiner eigenen Hypostase umschrieben zu sein, aus dem heiligen Blute der immerwährenden Jungfrau Fleisch, von einer vernünftigen und denkenden Seele belebt, es nahm die Erstlinge des menschlichen Teiges an, das Wort selbst wurde für das Fleisch die Hypostase. Darum ist es einerseits Fleisch, andrerseits Fleisch des Gott-Logos und zugleich beseeltes Fleisch, vernünftig und denkend. Deshalb reden wir nicht von einem vergotteten Menschen, sondern von einem menschgewordenen Gott. Denn dasselbe [Wort], das kraft der Natur vollkommener Gott ist, ist kraft der Natur vollkommener Mensch. Es hat sich nicht in seiner Natur geändert noch die Heilsveranstaltung nur zum Schein zur Schau gestellt, nein, es hat sich mit dem Fleisch, das aus der heiligen Jungfrau genommen und mit einer vernünftigen und denkenden Seele belebt ward, das in ihm selbst sein Sein erhalten, hypostatisch geeint ohne Vermischung, ohne Verwandlung und ohne Trennung. Denn es hat die Natur seiner Gottheit nicht in die Wesenheit des Fleisches verwandelt noch die Wesenheit seines Fleisches in die Natur seiner Gottheit, noch hat es aus seiner göttlichen Natur und aus der menschlichen Natur, die es angenommen, eine einzige, zusammengesetzte Natur gebildet.
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Luk. 1, 26 f. ↩
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Hebr. 7, 14. 13. ↩
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Luk. 1, 28. ↩
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Ebd. [Luk.] 1, 29 f. ↩
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Matth. 1, 21. ↩
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Luk. 1, 34. ↩
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Ebd. [Luk.] 1, 35. ↩
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Ebd. [Luk.] 1, 38. ↩
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Greg. Naz., Or. 38, 13 (Migne, P. gr. 36, 325 B): „Empfangen aus der Jungfrau, die zuvor vom (Hl.) Geist an Fleisch und Seele gereinigt worden.“ ↩
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Vgl. Röm. 11, 16. ↩