XXVIII. KAPITEL. Von der Vergänglichkeit und Vernichtung.
Der Name Vergänglichkeit bedeutet zweierlei: Er bedeutet folgende menschliche Leiden: Hunger, Durst, S. 185 Ermüdung, das Durchbohren mit Nägeln, Tod oder Trennung der Seele vom Leibe und dergleichen. Nach dieser Bedeutung nennen wir den Leib des Herrn vergänglich. Denn all das nahm er freiwillig an. Es bedeutet aber die Vergänglichkeit (φθορά) [phthora] auch die völlige Auflösung des Leibes in die Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist 1, seine Vernichtung (ἀφανισμός) [aphanismos], die von vielen lieber διαφθορά [diaphthora] genannt wird. Diese erfuhr der Leib des Herrn nicht, wie der Prophet David sagt: „Denn nicht lässest du mich in die Unterwelt sinken, noch deinen Heiligen (Verehrer) Vernichtung erfahren 2.“
Darum ist es gottlos, nach der ersten Bedeutung von Vergänglichkeit den Leib des Herrn vor der Auferstehung unvergänglich zu nennen 3, wie der unsinnige Julian und Gajanus 4 lehrten. Denn war er unvergänglich, dann war er uns nicht wesensgleich, sondern nur scheinbar und nicht wirklich geschah, was das Evangelium von seinem Hunger, seinem Durst, den Nägeln, der Seitenwunde, dem Tod erzählt. Geschah es aber nur scheinbar, dann ist das Geheimnis der Heilsveranstaltung Täuschung und Theater, dann ist er scheinbar und nicht wirklich Mensch geworden, dann sind wir nur scheinbar und nicht wirklich gerettet. Doch fort damit! Die dies behaupten, sollen am Heile nicht teil haben. S. 186 Wir haben das wahre Heil erlangt und werden es erlangen. — Nach der zweiten Bedeutung von Vergänglichkeit aber bekennen wir, daß der Leib des Herrn unvergänglich und unverweslich ist, wie uns die gotterfüllten Väter überliefert haben. Nach der Auferstehung des Heilands von den Toten jedoch erklären wir auch nach der ersten Bedeutung den Leib des Herrn für unvergänglich. Denn auch unserem Leib hat der Herr durch seinen Leib die Auferstehung und die darauffolgende Unvergänglichkeit geschenkt, da er für uns der Erstling 5 der Auferstehung, der Unvergänglichkeit und der Leidenslosigkeit geworden ist. „Es muß nämlich dieses Vergängliche die Unvergänglichkeit anziehen 6“, sagt der Apostel.
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Das kursiv Gedruckte in diesem Abschnitt ist fast wörtlich aus Leont. (?), De sectis act. 10 n. 2 (Migne, P. gr. 86, 1, 1261 CD). Doctr. Patr. de incarn. Verb. S. 114, 17—20. ↩
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Ps. 15, 10 [hebr. Ps. 16, 10]. ↩
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Im folgenden lehnt sich Johannes deutlich an De sectis a. a. O. Doctr. Patr. S. 113, 7 ff. bis 114, 1 — 11. ↩
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Julianus, monophysitischer Bischof von Halikarnaß in Karien, † nach 518, behauptete gegen Severus, den Patriarchen von Antiochien, † wahrscheinlich 538, der Leib Christi sei auch vor der Auferstehung schon unverweslich und inkorruptibel gewesen. Die Severianer hießen Phthartolatren (Vergänglichkeitsanbeter), die Julianisten Aphthartodoketen (Unvergänglichkeitslehrer). Nach dem Tode des severianisch gesinnten Patriarchen Timotheus von Alexandrien (536) wählten beide Parteien einen eigenen Patriarchen, die Severianer Theodosius, die Julianisten Gajanus, und so entstanden die Parteinamen Theodosianer (═ Severianer) und Gajaniten (═ Julianisten). ↩
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Vgl. 1 Kor. 15, 20. ↩
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Ebd. [1 Kor.] 15, 53. ↩