29. Cap. Die Regel von einer ununterbrochenen allgemeinen Aufeinanderfolge der Gegensätze, womit die Seelenwanderung begründet werden soll, existiert nicht.
Dass die Lebendigen zu Toten werden, das steht fest, darum aber noch nicht, dass aus Toten Lebendige werden. Denn im Uranfang waren die Lebendigen die ersten und darum von Anfang an die Toten die Späteren. Sie entstehen nirgendwo anders her als aus Lebendigen. Für diese aber gab es einen angemessenern Ursprung als aus den Toten. Jene hingegen haben nichts, woraus sie entspringen könnten, als nur die Lebendigen. Wenn also im Uranfang die Lebendigen nicht aus den Toten entstanden sind, warum denn nachher? War denn die Quelle ihres Ursprungs, wie beschaffen auch immer, versiecht? Oder war ihnen die herkömmliche Regel leid ? Und wie blieb diese in den Toten von Bestand? Weil im Anbeginn Tote aus Lebenden entstanden, entstehen sie deshalb nicht noch immer daraus? Entweder wäre die ursprüngliche Regel in beiden Fällen von Bestand gewesen, oder sie hätte sich in beiden geändert, so dass, wenn später Lebendige aus Toten entstehen mussten, es ebenso eine Notwendigkeit gewesen wäre, dass nicht mehr aus Lebendigen Tote würden. Wenn die Zuverlässigkeit der Einrichtung sich nicht durchweg gleichbleiben durfte, so gibt es auch keine fortdauernde wechselsweise Wiederherstellung der Dinge aus ihrem Gegenteil.
Wir stellen ja auch die Gegensätze von Geboren und Ungeboren, Sehvermögen und Blindheit, Jugend und Alter, Weisheit und Nichtweisheit einander gegenüber, sagen aber darum doch nicht, das Ungeborene gehe aus Geborenem hervor, weil sein Gegenteil aus dem andern Gegenteil hervorgeht. Ebensowenig entsteht das Sehvermögen darum aus der Blindheit, weil die Blindheit das Sehvermögen befällt. Die Jugend verjüngt sich S. 335 nicht aus dem Alter darum, weil das Alter auf die Jugend durch Abnahme der Kräfte folgt; die Weisheit stumpft sich nicht darum zur Thorheit ab, weil die Thorheit sich zur Weisheit schärft. Solche Folgerungen fürchtete auch Albinus für seinen Plato und suchte daher in subtiler Weise die Gegensätze in Klassen zu zerlegen. Aber das kommt dann so heraus, als ob die letztgenannten Gegensätze nicht ebenso vollkommen wären als jene, welche er im Interesse der Ansicht seines Meisters auslegt, nämlich Leben und Tod. Trotzdem wird das Leben nicht nach dem Tode darum wieder verliehen werden, weil auf das Leben der Tod folgt.