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Buch der Pastoralregel (BKV)
V. Kapitel: Der Seelsorger muß gegen jedermann voll Teilnahme und mehr als alle der Betrachtung ergeben sein
Der Seelsorger muß gegen jedermann voll Teilnahme und mehr als alle der Betrachtung ergeben sein; denn er muß mit einem Herzen voll Liebe die Schwachheit der andern auf sich nehmen und in erhabener Beschauung im Verlangen nach der unsichtbaren Welt sich über sich selbst erheben; denn er darf in seinem Streben nach dem Höchsten nicht verächtlich auf die Schwachheit des Nächsten herabschauen, oder umgekehrt bei seiner Herab- S. 98 lassung zur Schwachheit des Nächsten das höhere Streben nicht aufgeben. So wird Paulus in das Paradies geführt und schaut die Geheimnisse des dritten Himmels,1 und doch richtet er, obwohl er in die Betrachtung dieser unsichtbaren Welt versunken war, sein Augenmerk noch auf das Ehegemach fleischlicher Menschen und entscheidet, wie sie sich in ihren verborgenen Beziehungen zueinander zu verhalten haben, indem er sagt: „Um die Unzucht zu meiden, habe jeder sein Weib, und eine jede habe ihren Mann. Dem Weibe leiste der Mann die Pflicht und ebenso das Weib dem Manne.“2 Und gleich darauf: „Entziehet euch einander nicht, außer mit gegenseitiger Einwilligung eine Zeitlang, um euch dem Gebete zu widmen; dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht versuche!“3 Siehe, schon wandelt er in himmlischen Geheimnissen und doch läßt er sich herab und wirft seinen Blick in das Ehegemach fleischlicher Menschen; und dasselbe Geistesauge, das er entzückt zu den unsichtbaren Dingen erhebt, senkt er voll Erbarmen herab zu den Geheimnissen schwacher Menschen. Bis in den Himmel erschwingt er sich in der Betrachtung, aber seine Sorgfalt erstreckt sich auch auf das Ruhelager fleischlicher Menschen. So ist in ihm durch das Band der Liebe das Höchste mit dem Niedrigsten verbunden: so wird sein Geist für sich allein in die höchsten Höhen entrückt und nimmt aus Mitleid mit den anderen gleicherweise Anteil an ihrer Schwachheit. Darum sagt er: „Wer wird schwach, ohne daß ich schwach werde? Wer wird geärgert, ohne daß ich brenne?“4 und ebenso: „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden.“5 Dies sagt er nicht, als hätte er den Glauben verleugnet, sondern um seine Liebe auszudehnen und, damit er an sich selbst erkenne, indem er die Ungläubigen gleichsam in seine Person verwandelte, wie er anderer sich erbarmen müsse und ihnen tun könne, was er selbst in S. 99 gleicher Lage wünschen würde, daß man ihm tun möchte. Darum sagt er auch: „Denn sei es, daß wir uns übernehmen, für Gott ist’s; sei es, daß wir uns mäßigen, für euch ist’s!“;6 denn er konnte in der Betrachtung sich in die Höhe schwingen und konnte zugleich herabsteigen und seinen Zuhörern sich anpassen. Deshalb sah Jakob, als in der Höhe oben der Herr erschien und unten der Stein gesalbt wurde, wie die Engel auf- und niederstiegen; denn der wahre Prediger sucht in der Betrachtung nicht nur in der Höhe das heilige Haupt der Kirche, das ist unsern Herrn, sondern erbarmungsvoll neigt er sich auch herab zu ihren Gliedern. So geht Moses im heiligen Zelte oft aus und ein, und während er drinnen in Beschauung hingerissen wird, umdrängen ihn draußen die Anliegen der Schwachen. Drinnen schaut er Gottes Geheimnisse, draußen trägt er die Lasten fleischlicher Menschen. Auch dann, wenn er über etwas im Zweifel ist, nimmt er stets seine Zuflucht zum Zelte und befragt den Herrn vor der Bundeslade; damit gibt er ohne Zweifel den Seelenführern ein Beispiel, wie sie bei jedem Zweifel hinsichtlich ihrer äußeren Anordnungen sich im Innern wie im heiligen Zelte sammeln und gleichsam vor der Bundeslade den Herrn befragen sollen, indem sie in zweifelhaften Fällen für sich im stillen die Blätter des göttlichen Wortes zu Rate ziehen. Oblag ja auch die Wahrheit selbst, die unsere Natur annahm und sich dadurch offenbarte, auf dem Berge dem Gebete und wirkte Wunder in den Städten. Sie wollte dadurch den guten Seelenhirten den Weg zur Nachfolge zeigen, damit sie einerseits in der Betrachtung das erhabenste Ziel anstreben, anderseits aber auch voll Mitleid sich der Not der Schwachen annehmen möchten. Denn dann erhebt sich die Liebe wunderbar in die Höhe, wenn sie sich mitleidsvoll dem Elend des Nächsten zuwendet; und gerade wenn sie mildreich sich herabneigt, erhebt sie sich zur höchsten Höhe.
S. 100 Es muß aber das Verhalten des Seelsorgers derart beschaffen sein, daß seine Untergebenen sich nicht scheuen, ihm selbst ihre geheimen Fehler aufzudecken. Sie sollen, wenn sie den Sturm der Versuchungen aushalten müssen, zum Hirten ihre Zuflucht nehmen können, wie die kleinen Kinder in den Schoß der Mutter eilen, und sollen in seinem tröstenden Zuspruch und unter Gebet und Tränen sich wieder rein waschen, wenn sie sich von dem Ansturm der Sünde befleckt fühlen. Deshalb befand sich auch vor dem Eingang zum Tempel, damit man sich beim Eintritt die Hände waschen konnte, das eherne Meer, das heißt das Waschbecken; es wurde von zwölf Rindern getragen, die mit dem Kopfe nach auswärts schauten, hinten aber verdeckt waren. Was sollen diese zwölf Rinder anders andeuten als die Gesamtheit der Hirten, von denen das Gesetz, wie Paulus ausführt, sagt: „Du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verkörben?“7 Wir sehen zwar jetzt ihre äußeren Werke; wir wissen aber nicht, was für eine Belohnung von Seiten des ewigen Richters später ihrer wartet. Wenn sie sich aber in ihrer herablassenden Geduld anschicken, die Bekenntnisse der Mitmenschen zu tilgen,8 tragen sie gleichsam vor dem Eingang zum Tempel das Waschbecken, damit alle, die zur Pforte des ewigen Lebens eingehen wollen, ihre Versuchungen dem Herzen des Hirten offenbaren und gleichsam in dem von Rindern getragenen Waschbecken ihre Hände von bösen Gedanken und Werken sich rein waschen können. Dabei kann es oft vorkommen, daß auch des Hirten Seele von den Versuchungen, die er von anderen in erbarmender Weise anhört, berührt wird, wie ja auch das Wasser im Becken, wenn soviel Volk S. 101 darin sich wäscht, verunreinigt wird. Indem es den Schmutz derer, die sich darin waschen, aufnimmt, verliert es den Glanz der eigenen Reinheit. Der Hirt darf sich aber dadurch nicht abschrecken lassen, denn der Herr beachtet alles aufs einzelnste und läßt ihn um so leichter aus der eigenen Versuchung unversehrt hervorgehen, je größer die Barmherzigkeit und die Mühe war, mit der er sich anderer in ihrer Versuchung angenommen hat.
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2 Kor. 12, 2. ↩
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1 Kor. 7, 2 f. ↩
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Ebd. 7, 5. ↩
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2 Kor. 11, 29. ↩
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1 Kor. 9, 20. ↩
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2 Kor. 5, 13. ↩
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1 Kor. 9, 9 aus Deut. 25, 4. ↩
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Wegen der Wichtigkeit dieser Stelle für das hl. Bußsakrament gibt die Übersetzung das „patientiam diluendis proximorum confessionibus praeparant“ wörtlich wieder, wobei confessio den Gegenstand des Bekenntnisses bedeutet. ↩
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Regulae pastoralis liber
Caput V.
Ut sit rector singulis compassione proximus,
prae cunctis contemplatione supsensus.
Sit rector singulis compassione proximus, prae cunctis contemplatione suspensus, ut et per pietatis viscera in se infirmitatem caeterorum transferat, et per speculationis altitudinem semetipsum quoque invisibilia appetendo transcendat, ne aut alta petens, proximorum infirma despiciat, aut infirmis proximorum congruens, appetere alta derelinquat (II Cor. XII, 3). Hinc est namque quod Paulus in paradisum ducitur, coelique tertii secreta rimatur, et tamen illa invisibilium contemplatione suspensus, ad cubile carnalium aciem mentis revocat, atque in occultis suis qualiter debeant conversari dispensat, dicens: Propter fornicationem autem unusquisque suam uxorem habeat, et unaquaeque suum virum habeat. Uxori vir debitum reddat; similiter autem et uxor viro (I Cor. VII, 2). Et paulo post (Ibid., 5): Nolite fraudare invicem, nisi forte ex consensu ad tempus, ut vacetis orationi; et iterum revertimini in idipsum, ne tentet vos Satanas. Ecce jam coelestibus secretis inseritur, et tamen per condescensionis viscera carnalium cubile perscrutatur; et quem sublevatus ad invisibilia erigit, hunc miseratus ad secreta infirmantium oculum cordis flectit. Coelum contemplatione transcendit, nec tamen stratum carnalium sollicitudine deserit, quia compage charitatis summis simul, et infimis junctus, et in semetipso virtute spiritus ad alta valenter rapitur, et pietate in aliis aequanimiter infirmatur. Hinc etenim dicit: Quis infirmatur, et ego non infirmor? quis scandalizatur, et ego non uror (II Cor., XI, 29)? Hinc rursus ait: Factus sum Judaeis tanquam Judaeus (I Cor. IX, 20). Quod videlicet exhibebat non amittendo fidem, sed extendendo pietatem, ut in se personam infidelium transfigurans, ex semetipso disceret qualiter aliis misereri debuisset, quatenus hoc illis impenderet, quod sibi ipse, si ita esset, impendi recte voluisset. Hinc iterum dicit: Sive mente excedimus, Deo; sive sobrii sumus, vobis (II Cor. V, 13); quia et semetipsum noverat contemplando transcendere, et eumdem se auditoribus condescendendo temperare.
Hinc Jacob Domino desuper innitente, et uncto deorsum lapide, ascendentes ac descendentes angelos vidit (Gen. XXVIII, 12); quia scilicet praedicatores recti non solum sursum sanctum caput Ecclesiae, videlicet Dominum, contemplando appetunt, sed deorsum quoque ad membra illius miserando descendunt. Hinc Moyses crebro tabernaculum intrat et exit; et qui intus in contemplationem rapitur, foris infirmantium negotiis urgetur. Intus Dei arcana considerat, foris onera carnalium portat. Qui de rebus quoque dubiis semper ad tabernaculum recurrit, coram testamenti arca Dominum consulit: exemplum proculdubio rectoribus praebens, ut cum foris ambigunt quid disponant, ad mentem semper quasi ad tabernaculum redeant; et velut coram testamenti arca Dominum consulant, si de his in quibus dubitant apud semetipsos intus sacri eloquii paginas requirant. Hinc ipsa Veritas per susceptionem nostrae humanitatis nobis ostensa, in monte orationi inhaeret, miracula in urbibus exercet (Luc. VI, 12); imitationis videlicet viam bonis rectoribus sternens; ut etsi jam summa contemplando appetunt, necessitatibus tamen infirmantium compatiendo misceantur, quia tunc ad alta charitas mirabiliter surgit, cum ad ima proximorum se misericorditer attrahit; et quo benigne descendit ad infirma, valenter recurrit ad summa. Tales autem sese qui praesunt exhibeant, quibus subjecti occulta quoque sua prodere non erubescant; ut cum tentationum fluctus parvuli tolerant, ad Pastoris mentem quasi ad matris sinum recurrant; et hoc quod se inquinari pulsantis culpae sordibus praevident, exhortationis ejus solatio, ac lacrymis orationis lavent. Unde et ante fores templi ad abluendas ingredientium manus mare aeneum, id est luterem, duodecim boves portant (III Reg. VII, 23, seq.): qui quidem facie exterius eminent, sed ex posterioribus latent. Quid namque duodecim bobus, nisi universus pastorum ordo designatur? De quibus Paulo disserente lex dicit: Non obturabis os bovi trituranti (I Cor. IX, 9; ex Deuteron. XXV, 4). Quorum quidem nos aperta opera cernimus, sed apud districtum judicem quae illos posterius maneant in occulta retributione nescimus. Qui tamen cum condescensionis suae patientiam diluendis proximorum confessionibus praeparant, velut ante fores templi luterem portant; ut quisquis intrare aeternitatis januam nititur, tentationes suas menti pastoris indicet, et quasi in boum lutere cogitationis vel operis manus lavet. Et fit plerumque ut dum rectoris animus aliena tentamenta condescendendo cognoscit, auditis tentationibus etiam ipse pulsetur, quia et haec eadem per quam populi multitudo diluitur, aqua proculdubio luteris inquinatur. Nam dum sordes diluentium suscipit, quasi suae munditiae serenitatem perdit. Sed haec nequaquam pastori timenda sunt, quia Deo subtiliter cuncta pensante, tanto facilius a sua eripitur, quanto misericordius ex aliena tentatione fatigatur.