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Buch der Pastoralregel (BKV)
XIV. Kapitel: Wie man Schweigsame und wie man Geschwätzige zu ermahnen hat
Anders muß man die allzu Schweigsamen, anders die Geschwätzigen ermahnen. Den zu Schweigsamen muß man zu verstehen geben, daß sie bei ihrer unvorsichtigen S. 169 Flucht vor eigenen Fehlern unvermerkt in noch schlimmere geraten. Oft haben sie bei ihrer Wortkargheit doch im Herzen ein großes Gerede, weil die Gedanken um so heftiger und stärker werden, je mehr sie ein unangebrachtes Stillschweigen eingeschlossen hält. Um so weiter schweifen dann die Gedanken, da sie sich vor fremden Tadlern sicher wissen. Dadurch wird dann die Seele manchmal hochmütig und schätzt diejenigen gering, die sie reden hört, gleich als ob sie im Guten schwach wären. Sie merkt aber nicht, wie sie in ihrem Stolz allen Fehlern Zugang gewährt, während sie den leiblichen Mund geschlossen hält. Die Zunge wird im Zaume gehalten, aber der Geist wird stolz, und weil man auf die eigenen Fehler nicht achtet, hat man im Innern alle andern Leute um so mehr anzuklagen, je verborgener es geschieht. Man muß also die zu Schweigsamen ermahnen, sie sollten sich sorgfältig klarzumachen suchen, nicht bloß wie ihr äußeres, sondern auch wie ihr inneres Verhalten geartet sein müsse, und sie sollten noch mehr das geheime Gericht Gottes wegen ihrer Gedanken als den Tadel der Menschen wegen ihrer Reden fürchten. Denn es steht geschrieben: „Mein Sohn, habe acht auf meine Weisheit und neige dein Ohr zu meiner Klugheit, damit du deine Gedanken bewahrest.“1 Denn nichts ist flüchtiger in uns als das Herz, das uns so oft verläßt, als es sich in bösen Gedanken zerstreut. Darum sagt der Psalmist: „Mein Herz hat mich verlassen.“2 Darum spricht er, als er sich selbst wieder findet: „Dein Knecht hat sein Herz gefunden, um dich zu bitten.“3 Wenn man also seine Gedanken bewacht und im Zaume hält, findet man das flüchtige Herz.
Müssen die Schweigsamen aber irgendeine Ungerechtigkeit ertragen, dann wird ihr Schmerz um so größer, je weniger sie davon reden. Würden sie sich mit Ruhe über erlittenes Unrecht aussprechen, so würde der Schmerz aus ihrem Innern weichen. Denn eine geschlossene S. 170 Wunde verursacht größeren Schmerz. Tritt der Eiter, der innen die Hitze bewirkt, heraus, so ist dem Schmerz Luft gemacht, und die Heilung beginnt. Die allzu Schweigsamen müssen also bedenken, ob sie nicht bei den Leiden, die sie zu erdulden haben, durch ihr Schweigen den Schmerz noch steigern. Wenn sie den Nächsten lieben wie sich selbst, so brauchen sie ihm durchaus nicht zu verschweigen, worüber sie sich mit Recht beklagen können. Beiden gereicht dies in solchem Falle zum Heil, indem es den Beleidiger von seiner üblen Handlungsweise abhält und dem Beleidigten die Heftigkeit des Schmerzes mindert, da ihm ein Ausweg geschaffen wird. Denn wenn man das Böse am Nächsten sieht und doch im Stillschweigen verharrt, so ist das gerade so, als ob man eine Wunde gesehen und das Heilmittel ferngehalten hätte und schließlich Ursache am Tode eines andern würde, weil man das Übel nicht heilen wollte, obschon man konnte. Man muß also die Zunge mit Klugheit im Zaume halten, nicht sie in unlösbare Fesseln schlagen. Denn es heißt: „Der Weise schweigt bis zur schicklichen Zeit“,4 um nämlich, wenn er es für gelegen erachtet, das Schweigen zu brechen und durch geziemende Rede zu nützen. Ferner steht geschrieben: „Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit.“5 Mit Klugheit muß man nämlich die rechte Zeit wählen, damit man nicht, wo man schweigen sollte, seine Worte vergeude, oder wo ein Wort von Nutzen wäre, sich in träges Stillschweigen hülle. Dies hat der Psalmist im Auge, wenn er sagt: „Setze, Herr, meinem Munde eine Wache und feste Tore an meine Lippen ringsum!“6 Er bittet nicht um eine Mauer um seine Lippen, sondern um eine Türe, die man auf- und zumachen kann. Darum müssen wir ernstlich lernen, auf bescheidene Weise und zur rechten Zeit den Mund zur Rede zu öffnen und ebenfalls zur rechten Zeit zu schweigen.
Dagegen muß man die Geschwätzigen ermahnen, wohl S. 171 darauf zu achten, wie weit sie sich vom rechten Weg verirren, wenn sie sich in vielerlei Gerede einlassen. Denn die Menschenseele gleicht dem Wasser, welches, wenn es gefaßt wird, in die Höhe steigt und dorthin strebt, woher es gekommen ist, im freien Raum hingegen sich verliert, weil es nutzlos abwärts auseinander fließt. Wenn also jemand mit vielen unnützen Worten den Ernst des Stillschweigens preisgibt, so zerfließt sein Inneres in ebenso viele Bäche. Da ist es dann nicht genug, wieder zu sich und zur Selbstkenntnis zurückzukehren; denn durch das viele Reden hat sich die zerstreute Seele von der stillen Kammer der inneren Betrachtung ausgeschlossen. Dagegen hat sie sich ganz den Streichen ihres lauernden Feindes ausgesetzt, weil sie allen Schutzes und jeder Wache entbehrt. Darum steht geschrieben: „Wie eine offene Stadt ohne Ringmauern ist ein Mann, der seinen Geist beim Reden nicht zu mäßigen vermag.“7 Weil sie das Stillschweigen nicht zur Mauer hat, steht die Seelenburg den feindlichen Geschossen offen, und durch müßiges Gerede aus sich selbst vertrieben, steht sie schutzlos dem Feind gegenüber. Um so müheloser überwindet er sie, je mehr sie, schon unterliegend, durch ihr eitles Gerede noch gegen sich selber kämpft.
Weil aber die laue Seele stufenweise in den Abgrund gedrängt wird, so kommt man, wenn man sich vor müßigen Worten nicht in acht nehmen wollte, auch zu solchen Reden, die anderen schaden. Zuerst spricht man gern von den Angelegenheiten anderer; dann macht man sich mit Ehrabschneidungen über das Leben derer her, die ins Gespräch gezogen werden, bis die Zunge zuletzt in offene Schmähungen ausbricht. So entstehen gereizte Stimmungen, Streitigkeiten und Haß, bis zuletzt der Herzensfriede dahin ist. Darum sagt Salomon mit Recht: „Wer Wasser ausläßt, ist Ursache zu Streit.“8 „Wasser auslassen“ heißt hier nämlich der Zunge im Reden freien S. 172 Lauf lassen. Dagegen heißt es auch im guten Sinn: „Tiefes Wasser sind die Worte aus eines Mannes Munde.“9 Wer also Wasser ausläßt, fängt Händel an, weil die Eintracht stört, wer seine Zunge nicht im Zaume hält. Darum heißt es zum Gegenteil: „Wer einem Toren Stillschweigen auferlegt, besänftigt Erbitterung.“10 Daß aber ein Geschwätziger den Weg der Gerechtigkeit nicht einzuhalten vermag, bezeugt der Prophet mit den Worten: „Der Zungenfertige besteht nicht auf Erden.“11 Darum sagt Salomon an einer anderen Stelle: „Geschwätzigkeit geht nicht ohne Sünde ab.“12 Und Isaias: „Der Dienst der Gerechtigkeit ist Stillschweigen.“13 Er will damit sagen, daß die Gerechtigkeit der Seele zugrunde geht, wenn man sich nicht vor ungezügelter Rede in acht nimmt. Darum sagt Jakobus: „Wenn jemand vermeint, wahrhaft fromm zu sein, und hält seine Zunge nicht im Zaume, sondern täuscht sein Herz, dessen Gottesdienst ist eitel.“14 So sagt er ferner: „Es sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam aber zum Reden.“15 Auch führt er an, was die Zunge anzurichten vermag, indem er sie ein „nimmermüdes Übel, voll todbringenden Giftes“16 nennt. Deshalb ermahnt uns die Wahrheit selbst mit eigenem Munde: „Die Menschen werden über ein jedes unnütze Wort, das sie reden, am Tage des Gerichtes Rechenschaft geben müssen.“17 Unnütz ist ein Wort, das eines gerechten Grundes oder einer guten, nützlichen Absicht entbehrt. Wenn also schon über jedes unnütze Wort Rechenschaft verlangt wird, so laßt uns erwägen, welche Strafe der Klatschsucht wartet, bei welcher man sich auch durch schadenbringende Worte versündigt! S. 173
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Regulae pastoralis liber
Caput XIV.
Quomodo admonendi
taciturni et verbosi.
Aliter admonendi sunt nimis taciti, atque aliter multiloquio vacantes. Insinuari namque nimis tacitis debet, quia dum quaedam vitia incaute fugiunt, occulte deterioribus implicantur. Nam saepe linguam quia immoderatius frenant, in corde gravius multiloquium tolerant; ut eo plus cogitationes in mente ferveant, quo illas violenta custodia indiscreti silentii angustat. Quae plerumque tanto latius diffluunt, quanto se esse securius aestimant, quia foris a reprehensoribus non videntur. Unde nonnunquam mens in superbiam extollitur, et quos loquentes audit, quasi infirmos despicit. Cumque os corporis claudit, quantum se vitiis superbiendo aperiat non agnoscit. Linguam etenim premit, mentem elevat; et cum suam nequitiam minime considerat, tanto apud se cunctos liberius, quanto et secretius accusat. Admonendi sunt igitur nimis taciti, ut scire sollicite studeant, non solum quales foris ostendere, sed etiam quales se debeant intus exhibere, ut plus ex cogitationibus occultum judicium quam ex sermonibus reprehensionem metuant proximorum. Scriptum namque est: Fili mi, attende sapientiam meam, et prudentiae meae inclina aurem tuam, ut custodias cogitationes (Prov. V, 1). Nil quippe in nobis est corde fugacius, quod a nobis toties recedit, quoties per pravas cogitationes defluit. Hinc etenim Psalmista ait: Cor meum dereliquit me (Ps. XXXIX, 13). Hinc ad semetipsum rediens, ait: Invenit servus tuus cor suum ut oraret te (II Reg. VII, 27). Cum ergo cogitatio per custodiam restringitur, cor quod fugere consuevit invenitur.
Plerumque autem nimis taciti cum nonnulla injusta patiuntur, eo in acriorem dolorem prodeunt, quo ea quae sustinent non loquuntur. Nam si illatas molestias tranquille lingua diceret, a conscientia dolor emanaret. Vulnera enim clausa plus cruciant. Nam cum putredo quae interius fervet ejicitur, ad salutem dolor aperitur. Scire igitur debent, qui plus quam expedit tacent, ne inter molesta quae tolerant, dum linguam tenent, vim doloris exaggerent. Admonendi sunt enim ut si proximos sicut se diligunt, minime illis taceant unde eos juste reprehendunt. Vocis enim medicamine utrorumque saluti concurritur, dum et ab illo qui infert actio prava compescitur, et ab hoc qui sustinet doloris fervor vulnere aperto temperatur. Qui enim proximorum mala respiciunt, et tamen in silentio linguam premunt, quasi conspectis vulneribus usum medicaminis subtrahunt, et eo mortis auctores fiunt, quo virus quod poterant curare noluerunt. Lingua itaque discrete frenanda est, non insolubiliter obliganda. Scriptum namque est: Sapiens tacebit usque ad tempus (Eccli. XX, 7), ut nimirum cum opportunum considerat, postposita censura silentii, loquendo quae congruunt, in usum se utilitatis impendat. Et rursum scriptum est: Tempus tacendi, et tempus loquendi (Eccle. III, 7). Discrete quippe vicissitudinum pensanda sunt tempora, ne aut cum restringi lingua debet, per verba inutiliter defluat; aut cum loqui utiliter potest, semetipsam pigre restringat. Quod bene Psalmista considerans, dicit: Pone, Domine, custodiam ori meo, et ostium circumstantiae labiis meis (Ps. CXL, 3). Non enim poni ori suo parietem, sed ostium petit, quod videlicet aperitur et clauditur. Unde et nobis caute discendum est, quatenus os discretum et congruo tempore vox aperiat, et rursum congruo taciturnitas claudat. At contra abmonendi sunt multiloquio vacantes, ut vigilanter aspiciant a quanto rectitudinis statu depereunt, dum per multiplicia verba dilabuntur. Humana etenim mens aquae more circumclusa ad superiora colligitur, quia illud repetit unde descendit; et relaxata deperit, quia se per infima inutiliter spargit. Quot enim supervacuis verbis a silentii sui censura dissipatur, quasi tot rivis extra se ducitur. Unde et redire interius ad sui cognitionem non sufficit, quia per multiloquium sparsa, a secreto se intimae considerationis excludit. Totam vero se insidiantis hostis vulneribus detegit, quia nulla munitione custodiae circumcludit. Unde scriptum est: Sicut urbs patens et absque murorum ambitu, ita vir qui non potest in loquendo cohibere spiritum suum (Prov. XXV, 28). Quia enim murum silentii non habet, patet inimici jaculis civitas mentis; et cum se per verba extra semetipsam ejicit, apertam se adversario ostendit. Quam tanto ille sine labore superat, quanto et ipsa quae vincitur, contra semetipsam per multiloquium pugnat.
Plerumque autem quia per quosdam gradus desidiosa mens in lapsum casus impellitur, dum otiosa cavere verba negligimus, ad noxia pervenimus; ut prius loqui aliena libeat, postmodum detractionibus eorum vitam de quibus loquitur mordeat, ad extremum vero usque ad apertas lingua contumelias erumpat. Hine seminantur stimuli, oriuntur rixae, accenduntur faces odiorum, pax exstinguitur cordium. Unde bene per Salomonem dicitur: Qui dimittit aquam, caput est jurgiorum (Prov. XVII, 14). Aquam quippe dimittere est linguam in fluxum eloquii relaxare. Quo contra in bona etiam parte iterum dicitur: Aqua profunda, verba ex ore viri (Ibid., XVIII, 4). Qui ergo dimittit aquam, caput est jurgiorum, quia qui linguam non refrenat, concordiam dissipat. Unde e diverso scriptum est: Qui imponit stulto silentium, iras mitigat (Ibid., XXVI. 10). Quod autem multiloquio quisque serviens, rectitudinem justitiae tenere nequaquam possit, testatur Propheta qui ait: Vir linguosus non dirigetur super terram (Ps. CXXXIX, 12). Hinc quoque Salomon iterum dicit: In multiloquio non deerit peccatum (Prov. X, 19). Hinc Isaias ait: Cultus justitiae silentium (Is. XXXII, 17), videlicet indicans quia mentis justitia desolatur quando ab immoderata locutione non parcitur. Hinc Jacobus ait: Si quis putat se religiosum esse non refrenans linguam suam, sed seducens cor suum, hujus vana est religio (Jac. I, 26). Hinc rursum ait: Sit omnis homo velox ad audiendum, tardus autem ad loquendum (Ibid., 19). Hinc iterum, linguae vim definiens, adjungit: Inquietum malum, plena veneno mortifero (Jac. II, 8). Hinc per semetipsam nos Veritas admonet, dicens: Omne verbum otiosum quod locuti fuerint homines, reddent de eo rationem in die judicii (Matth. XII, 36). Otiosum quippe verbum est, quod aut ratione justae necessitatis, aut intentione piae utilitatis caret. Si ergo de otioso sermone ratio exigitur, pensemus quae poena multiloquium maneat, in quo etiam per noxia verba peccatur.