VI. Kapitel: Wie Weise und wie Einfältige zu ermahnen sind
Anders sind die Weisen dieser Welt, anders die geistig Beschränkten zu ermahnen. Denn die Weisen sind daran zu gemahnen, daß sie ihr jetziges Wissen einmal verlieren werden; die Beschränkten dagegen sind zu ermahnen, nach der Erlernung dessen zu trachten, was sie nicht wissen. Bei jenen gilt es vor allem, den Wissensdünkel zu zerstören, bei diesen aber, mit dem den Grund zu legen, was sie von übernatürlicher Weisheit erfassen können; denn da sie den Stolz nicht kennen, ist ihr Herz geeignet, einen solchen Bau aufzuführen. Bei jenen muß man mit vieler Mühe darauf hinarbeiten, daß sie mit größerer Weisheit Toren werden, die törichte Weisheit aufgeben und die weise Torheit Gottes erlernen; diesen aber muß man predigen, daß sie von der vermeintlichen Torheit allmählich zur wahren Weisheit übergehen sollen. Für jene gilt das Wort: „Wenn jemand unter euch als ein Weiser in dieser Welt gilt, der werde ein Tor, auf daß er ein Weiser werde;“1 für diese aber: „Es sind nicht viele Weise nach dem Fleische.“2 Und wiederum: „Was vor der Welt töricht ist, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen.“3 Jene bringen meistens Vernunftbeweise zur Bekehrung, diese werden eher durch Beispiele zur Besserung geführt. Für jene ist es gut, wenn sie in ihren eigenen Schlingen gefangen werden; für diese reicht es bisweilen schon hin, zu erfahren, was andere Lobenswürdiges tun. Als darum der erlauchte Lehrmeister, der Weisen und Unweisen Schuldner geworden, unter den Hebräern sowohl an Weise als an Leute von langsamer Fassungsgabe seine Ermahnung S. 143 richtete, wies er jene auf die Erfüllung des alten Bundes hin und überwand ihre Weisheit mit der Begründung: „Was aber veraltet ist und hinfällig wird, ist dem Verschwinden nahe.“4 Weil er aber wußte, daß manche schon durch Beispiele allein sich bewegen lassen, fügte er in demselben Briefe noch bei: „Die Heiligen erfuhren Verhöhnungen und Geißelstreiche, dazu Ketten und Gefängnis; sie wurden gesteinigt, zersägt, versucht, starben durch des Schwertes Morden.“5 Und wiederum: „Gedenket eurer Vorsteher, welche euch das Wort Gottes verkündet haben; auf den Ausgang ihres Wandels schauend ahmet ihren Glauben nach!“6 So sollte jene ein siegreicher Vernunftgrund zum Nachgeben bringen, diese aber ein einladendes Vorbild zu höherem Streben ermuntern.