VII. Kapitel: Wie Dreiste und wie Schüchterne zu ermahnen sind
Anders sind Dreiste, anders Schüchterne zu ermahnen. Jene bringt nichts von ihrem kecken Wesen ab als harte Worte des Tadels, diese führt meistens schon eine sanfte Mahnung auf besseren Weg. Jene glauben gar nicht, daß sie gefehlt haben, wenn sie nicht von vielen darob zurechtgewiesen werden; bei diesen ist es meistens zur Besserung schon hinreichend, daß der Lehrmeister ihnen mit einigen sanften Worten ihre Fehler ins Gedächtnis ruft. Bei jenen erreicht man am ehesten etwas, wenn man sie heftig ausschilt; bei diesen, wenn man das Tadelnswerte nur nebenher berührt. So schilt der Herr das freche Judenvolk geradezu mit folgenden Worten: „Du zeigtest die Stirn einer Buhlerin und wolltest dich nicht schämen.“1 Hiergegen ermutigt er wieder das Volk, wenn es schüchtern sich ihm naht, mit den Worten: „Der Schmach deiner Jugend wirst du vergessen und der S. 144 Schande deiner Witwenschaft nicht mehr gedenken; denn dein Schöpfer wird über dich herrschen.“2 Unverhohlen tadelt Paulus die Galater, welche frech sündigten: „O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch bezaubert?“3 Und ferner: „So töricht seid ihr, daß, nachdem ihr im Geiste angefangen, ihr im Fleische zur Vollendung geführt werden wollt?“4 Mitleidig aber tadelt er die Sünde der Schüchternen mit den Worten: „Höchlich aber habe ich mich im Herrn gefreut, daß ihr endlich einmal wieder aufgeblüht seid, für mich besorgt zu sein, wie ihr ja auch besorgt wäret; doch ihr wäret durch die Umstände behindert.“5 So enthüllte er in schonungslosem Tadel den Fehler der einen, während er mit schonender Rede die Lässigkeit der andern zudeckte.