IX. Kapitel: Wie Ungeduldige und wie Geduldige zu ermahnen sind
Anders muß man Ungeduldige, anders Geduldige ermahnen. Den Ungeduldigen muß man nämlich sagen, daß sie wegen Vernachlässigung ihrer Selbstbeherrschung zu vielen ungerechten Dingen fortgerissen werden, die sie eigentlich nicht beabsichtigen. Denn der Zorn treibt die Seele dahin, wonach in Wirklichkeit das Verlangen nicht steht; und in der Aufregung tut man unbewußt manches, was einen hernach reut, wenn die Besinnung zurückgekehrt ist. Auch das muß man den Ungeduldigen sagen, daß sie nach vollbrachter Tat kaum einsehen, wie viel Böses sie durch ihr zornmütiges, hastiges und beinahe unsinniges Wesen angerichtet haben. Weil sie ihren Unmut nicht bekämpfen, verderben sie dabei auch, was sie in ruhiger Stimmung Gutes getan hatten, und reißen in jäher Aufregung alles nieder, woran sie vielleicht lange mit Mühe und Sorgfalt gearbeitet haben. Denn gerade die Liebe, die Mutter und Hüterin aller Tugenden, geht durch Ungeduld verloren. Denn es steht geschrieben: „Die Liebe ist geduldig.“1 Wo also kein Fünklein Geduld ist, da ist auch die Liebe nicht. Auch die Pflegerin der Tugenden, die Lehrweisheit, geht durch die Ungeduld verloren. Denn es steht geschrieben: „Die Lehrweisheit eines Mannes erkennt man an seiner Geduld.“2 Es erscheint also einer nicht gelehrt, wenn er nicht geduldig befunden wird; und er kann in Wahrheit nicht das Gute durch belehrende Worte beibringen, wenn er durch seinen Lebenswandel zeigt, daß er fremde Fehler nicht in gleichmütiger Weise zu ertragen weiß.
Zu diesem Fehler der Ungeduld kommt sehr oft noch die Sünde der Anmaßung hinzu; denn da ein solcher es nicht ertragen kann, wenn er in der Welt gering ge- S. 148 schätzt wird, so sucht er seine etwaigen verborgenen Vorzüge hervorzukehren, und so führt ihn die Ungeduld zur Anmaßung. Verachtung kann er nicht ertragen; also rühmt er sich, prahlerisch sich selbst enthüllend. Darum steht geschrieben: „Besser ist ein Geduldiger als ein Anmaßender.“3 Ein Geduldiger erträgt lieber jegliches Übel, als daß er durch Prahlerei sein verborgenes Gute aufdecken würde. Der Anmaßende dagegen liebt es, sein Gutes, sogar erdichtetes, zur Schau zu tragen, nur damit er auch nicht das geringste Ungemach zu ertragen habe. Weil man also durch den Mangel an Geduld auch die schon vollbrachten guten Werke wieder verliert, so wird bedeutungsvoll bei Ezechiel4 befohlen, im Altare Gottes eine Vertiefung zur Aufnahme der Opfergaben anzubringen. Denn wenn diese Vertiefung im Altare nicht vorhanden wäre, würde ein Windhauch alles darauf befindliche Opfer fortwehen. Was verstehen wir aber unter dem Altare Gottes anderes als die Seele des Gerechten, welche in sich selbst so viele Opfergaben vor Gottes Augen niederlegt, als sie gute Werke verrichtet? Was aber bedeutet die Grube im Altar, wenn nicht die Geduld der Guten, welche die Seele verdemütigt, so daß sie Leiden zu ertragen vermag und sie auf diese Weise gleichsam in einer Grube, d. h. in Erniedrigung darstellt? Eine Grube also sei am Altare angebracht, damit der Wind das Opfer nicht verwehe, d. h. die Seele der Auserwählten bewahre die Geduld, damit sie nicht vom Wind der Ungeduld erfaßt werde und alle ihre guten Werke verliere. Auch wird nicht ohne Grund angegeben, daß diese Grube gerade eine Elle groß sein müsse; denn nur wenn die Geduld bewahrt wird, wird das Einheitsmaß eingehalten.5 Darum sagt Paulus: „Traget einer des andern Last, und so werdet ihr das Gesetz Christi er- S. 149 füllen.“6 Das Gesetz Christi ist nämlich die Liebe zur Einheit; und dieses erfüllen nur jene, welche sich nicht lostrennen, auch wenn sie eine Last zu tragen bekommen. Die Ungeduldigen sollen hören, was die Schrift sagt: „Besser ist ein Langmütiger als ein Starker, und wer sein Herz beherrscht, besser als ein Städte-Eroberer.“7 Denn etwas verhältnismäßig Geringes ist es, Städte zu erobern, da das, was unterjocht wird, außer uns liegt; viel größer aber ist der Sieg, den die Geduld erringt; denn wenn die Geduld die Seele zur Selbstbeherrschung zwingt, wird die Seele von sich selbst bezwungen und unterwirft sich ihrer eigenen Hoheit. Die Ungeduldigen sollen hören, was die ewige Wahrheit zu den Auserwählten sagt: „Durch eure Geduld werdet ihr eure Seelen gewinnen.“8 Denn das ist die wunderbare Ordnung in uns, daß die Vernunft die Seele, die Seele aber den Leib besitzen soll. Die Seele aber verliert ihr Anrecht auf den Besitz des Leibes, wenn sie nicht selbst von der Vernunft in Besitz gehalten wird. Wenn also der Herr lehrte, daß wir in der Geduld uns selbst besitzen sollen, hat er sie als die Behüterin unseres natürlichen Zustandes bezeichnet. Aus dem Umstande also, daß wir durch die Ungeduld den Besitz unseres eigenen Ichs verlieren, können wir schließen, was für eine große Sünde die Ungeduld sein muß. Die Ungeduldigen sollen hören, was Salomon an einer anderen Stelle sagt: „Der Tor macht seinem Unmut Luft, der Weise aber verzieht und hält für die Zukunft zurück.“9 Im Sturm der Ungeduld wird nämlich aller Geist nach außen gedrängt, und die Aufregung hilft um so leichter dazu, da ihn keine weise Zucht im Innern hält. Der Weise aber verzieht und hält zurück für die Zukunft. Wird er beleidigt, so will er sich nicht augenblicklich rächen, wünscht er doch auch für sich selbst Nachsicht; er weiß aber wohl, daß beim Jüngsten Gerichte alles nach Gerechtigkeit wird bestraft werden.
S. 150 Die Geduldigen dagegen muß man ermahnen, über das, was sie äußerlich ertragen, nicht innerlich unwillig zu sein, damit ein solches Tugendopfer, das sie untadelig nach außen darbringen, nicht im Innern durch das Gift des Bösen zerstört werde. Denn da die Menschen davon nichts beobachten, sondern diese Sünde nur vor dem göttlichen Richter begangen wird, so würde die Sünde dieses Unwillens deswegen um so größer, weil sie sich vor den Menschen den Schein der Tugend wahrt.
Man muß den Geduldigen auch sagen, sie sollen denjenigen, welche sie nun einmal ertragen müssen, auch Liebe entgegenbringen, damit nicht etwa bei einer Geduld ohne Liebe die äußerlich zur Schau getragene Tugend sich allmählich in den schlimmen Fehler der Gehässigkeit verwandle. Als deshalb Paulus sagte: „Die Liebe ist geduldig“, fügte er sogleich bei: „Sie ist gütig“10 und wollte damit sagen, daß die Liebe nicht aufhört, diejenigen aus Wohlwollen zu lieben, die sie aus Geduld erträgt. Wenn daher der herrliche Lehrer seine Jünger zur Geduld ermahnt, indem er sagt: „Alle Bitterkeit, Groll, Zorn, Geschrei und Lästerung werde entfernt von euch“,11 so wendet er sich, als wäre alles Äußere schon wohl in Ordnung, dem Innern zu, indem er beifügt: „samt aller Bosheit“. Denn vergeblich wird Zorn, Geschrei und Lästerung aus dem äußeren Leben entfernt, wenn im Innern noch die Bosheit, die Mutter aller Laster, die Herrschaft führt; und ganz umsonst ist es, die Bosheit außen an den Zweigen zu beschneiden, wenn man sie noch in der Wurzel fortbestehen läßt; denn nur um so vielfältiger wird sie wieder emporsteigen. Darum sagt die Wahrheit selbst mit eigenem Munde: „Liebet eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden.“12 Tugend vor den Menschen nämlich ist es, die Feinde zu ertragen; aber Tugend vor Gott ist es, sie zu lieben; denn nur dann nimmt Gott ein Opfer an, wenn es vor seinen S. 151 Augen auf dem Altar der guten Werke von der Flamme der Liebe in Brand gesetzt wird. Darum sagt der Herr auch denjenigen, die zwar geduldig sind, aber die Liebe nicht haben: „Was aber siehst du den Splitter in dem Auge deines Bruders und den Balken in deinem Auge siehst du nicht?“13 Die ungeduldige Aufregung ist der Splitter, die Bosheit des Herzens aber ist der Balken im Auge. Jene wird vom Hauch der Versuchung erregt, diese aber wird von der vollen Bosheit starr und steif getragen. Mit Recht heißt es darum: „Heuchler! Ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge und darnach siehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen kannst!“14 Es ist, als ob dem bösen Herzen, das innerlich krankt, während es sich nach außen durch die Geduld als heilig gibt, gesagt würde: Wirf doch zuerst die Last der Bosheit von dir, dann erst tadle andere wegen der leichteren Sünde der Ungeduld; denn wenn du diese deine Verstellung nicht bekämpfst, liegt in deiner Ertragung fremder Fehler eine noch größere Schuld.
Oft geschieht es auch bei Geduldigen, daß sie in dem Augenblick, wo Mißgeschick oder Schmähung über sie kommt, von gar keinem Schmerz berührt werden; sie üben dabei die Geduld in einem Grade, daß auch die Bewachung des Herzensfriedens keine Unterbrechung erleidet; wenn sie sich aber später das Vorgefallene wieder ins Gedächtnis zurückrufen, so steigt der Unwille in ihnen auf; und sie geraten in Aufregung, suchen Mittel und Wege, um Rache zu nehmen, und verwandeln so noch nachträglich die Sanftmut, mit der sie zuerst die Sache ertrugen, in Bosheit. Hier kann ihnen der Seelsorger schnell Hilfe bringen, wenn er ihnen klarmacht, woher diese Veränderung kommt. Denn der schlaue böse Feind führt Krieg nach zwei Seiten; den einen reizt er zu Beleidigungen, den andern zur Vergeltung der Beleidigungen. Oft ist er schon Sieger über den, der von ihm irregeleitet eine Beleidigung ausspricht, während er ge- S. 152 gen den unterliegt, der die Beleidigung gleichmütig erträgt, Sieger also über den einen, den er durch seine Einflüsterung unterjochte, wendet er sich mit aller Gewalt gegen den zweiten und ist ärgerlich über dessen zähen Widerstand und dessen Sieg; da er ihn durch die zugefügte Beleidigung nicht überwinden konnte, sieht er einstweilen vom offenen Kampfe ab und sucht ihn vielmehr durch stille Einflüsterung zu reizen und bei günstiger Gelegenheit zu hintergehen. Weil er im offenen Kriege verloren hat, sieht er es nun ganz darauf ab, geheime Fallstricke zur Anwendung zu bringen. Zur Zeit der Ruhe nähert er sich nämlich wieder der Seele des Siegers und ruft ihm den Schaden oder die widerfahrene Beleidigung ins Gedächtnis zurück, übertreibt alles auf das ärgste und stellt es als ganz unerträglich hin. Dadurch erfüllt er die Seele mit einer solchen Aufregung und mit einem solchen Verdruß, daß der geduldige Mann jetzt nach seinem Sieg sich gefangennehmen läßt und sich seines Gleichmutes schämt, daß er sich darüber ärgert, daß er die Beleidigungen nicht erwidert hat, und daß er nun darauf ausgeht, sie bei Gelegenheit mit Schlimmerem heimzuzahlen. Gleichen solche nicht denjenigen, die zwar auf dem Schlachtfelde durch ihre Tapferkeit den Sieg behaupten, aber darnach aus Nachlässigkeit innerhalb der Mauern der Stadt sich gefangennehmen lassen? Gleichen sie nicht jenen, denen eine schwere Krankheit das Leben nicht nehmen konnte, die aber rückfällig werden und einem schleichenden Fieber erliegen? Man muß also die Geduldigen darauf aufmerksam machen, daß sie nach dem Sieg ihr Herz bewachen und auf den Feind achten müssen, der, im offenen Kampfe besiegt, sich in die Mauern der Seele zu schleichen sucht, und daß sie sich sehr vor dem schleichenden Rückfall in die Krankheit zu fürchten haben. Denn sonst wird der schlaue Feind um so mehr über die ihm gelungene Täuschung triumphieren, je unbeugsamer der S. 153 Nacken lange Zeit war, auf den er jetzt seinen Fuß setzen kann.
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1 Kor. 13, 4. ↩
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Sprichw. 19, 11. ↩
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Pred. 7, 9. ↩
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Ezech. 43, 13. ↩
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Die Elle (cubitus) ist das Einheitsmaß; die Geduld bemißt also alles nach dem richtigen und gleichen Maß. ↩
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Gal. 6, 2. ↩
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Sprichw. 16, 32. ↩
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Luk. 21, 19. ↩
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Sprichw. 29, 11. ↩
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1 Kor. 13, 4. ↩
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Eph. 4, 31. ↩
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Matth. 5, 44 u. Luk. 6, 27 f. ↩
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Matth. 7, 3. ↩
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Ebd. 7, 5. ↩