X. Kapitel: Wie Wohlwollende und wie Neidische zu ermahnen sind
Anders muß man Wohlwollende und anders Neidische ermahnen. Die Wohlwollenden muß man darauf hinweisen, sie sollen sich so an fremdem Besitz erfreuen, daß sie selbst solchen zu erlangen wünschen. Sie sollen den Handlungen anderer Leute so wohlwollenden Beifall spenden, daß sie sie sogar nachahmend vervielfältigen. Denn wenn sie in der Rennbahn des Lebens dem Ringen anderer zwar ergeben Beifall spenden, dabei aber bloß müßige Zuschauer bleiben, erhalten sie auch nach dem Wettkampf keinen Preis, weil sie sich am Ringen nicht beteiligt haben; und traurig müssen sie dann die Siegespalmen der anderen betrachten, bei deren Mühen sie untätig waren. Groß ist zwar schon unsere Sünde, wenn wir an den Werken anderer keine Freude haben; wir haben aber auch keinerlei Verdienst, wenn wir nicht das, woran wir Freude haben, so gut wir können, nachahmen. Man muß also den Wohlwollenden sagen, daß sie, wofern ihnen an der Nachahmung der belobten und gepriesenen Vorzüge nichts liegt, an der Heiligkeit der Tugend kein besseres Wohlgefallen haben als die törichten Zuschauer an eitlen Spielerkünsten. Diese spenden nämlich den Künsten der Rosselenker und Schauspieler ihren Beifall, ohne daß sie denen ähnlich sein möchten, die sie loben. Sie bewundern deren gefälliges Auftreten, hüten sich aber, auf ähnliche Weise gefallen zu wollen. Man muß also den Wohlwollenden sagen, sie sollen bei dem Anblick der Werke des Nebenmenschen in ihr eigenes Herz einkehren und das Gute an fremden Handlungen nicht loben, ohne gleichfalls Gutes zu tun. Denn ein strenges Gericht werden einst die zu erfahren haben, die S. 154 zwar an etwas Gefallen hatten, es aber nicht nachahmen wollten.
Die Neidischen hingegen sollen erwägen, wie blind die sind, die rückwärts gehen, weil andere vorwärts kommen; die sich grämen, weil andere sich freuen; wie unglücklich die sind, die dadurch schlimmer werden, daß es dem Nächsten besser geht; die traurig werden und an dieser Krankheit ihres Herzens dahinsiechen, wenn sie sehen, wie das Glück bei andern zunimmt. Kann es etwas Unglücklicheres geben als diejenigen, die beim Anblick fremden Glückes sich betrüben und durch diese Sünde noch schlimmer werden? Wenn sie fremde Güter, die sie nicht besitzen können, liebten, so würden sie sie zu den ihren machen. Denn wie die vielen Glieder an einem Leibe, so gehören alle Gläubigen zu einem Ganzen zusammen; ihrer Aufgabe nach sind sie verschieden; dadurch aber, daß sie sich ineinanderfügen, werden sie ein Ganzes. Darum sieht der Fuß gleichsam im Auge, dadurch gehen die Augen in den Füßen; dadurch dient das Gehör dem Munde und leiht die Zunge dem Ohr ihren Dienst; dadurch hilft der Leib den Händen und arbeiten die Hände für den Leib. Aus der Beschaffenheit unseres Körpers also können wir entnehmen, wie wir es in unserem Handel und Wandel halten sollen. Eine Schmach ist es also, unsere eigene Natur nicht nachzuahmen. So gehört also auch uns, was wir an andern lieben, wenn wir es auch nicht nachmachen können; und denen, die uns lieben, gehört darum alles, was sie an uns der Liebe würdig finden. Daraus sollen die Neidischen ersehen, welche Kraft der Liebe innewohnt, da sie Werke fremder Mühe mühelos zu den unsrigen macht. Darum muß man den Neidischen sagen, daß sie in die alte Bosheit unseres schlauen Feindes fallen, wenn sie sich vor dem Neide nicht in acht nehmen wollen. Von ihm heißt es nämlich in der Schrift: „Durch den Neid des Teufels ist der Tod S. 155 in die Welt gekommen.“1 Weil er nämlich selbst den Himmel verlor, darum beneidete er den Menschen nach dessen Schöpfung und machte seine Verdammung noch größer, indem er, selbst gefallen, auch andere zum Falle brachte. Man muß die Neidischen darauf hinweisen, daß sie mit jedem neuen Fall immer tiefer ins Verderben sinken; denn wenn sie den Neid nicht aus dem Herzen entfernen, kommt es bei ihnen zu offenen Tatsünden. Wäre Kain nicht neidisch darüber gewesen, daß das Opfer seines Bruders angenommen wurde, so wäre er nicht dazu gekommen, ihm das Leben zu nehmen. Denn es heißt in der Schrift: „Da sah der Herr auf Abel und sein Opfer; aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht; und Kain ergrimmte so heftig, daß sein Angesicht einfiel.“2 Der Neid wegen des Opfers war also der Ursprung des Brudermordes. Da er es nicht leiden wollte, daß sein Bruder besser sein sollte als er, schaffte er ihn hinweg, damit er überhaupt nicht da sei. Man muß den Neidischen erklären, daß sie auch alles Gute zugrunderichten, das sie sonst etwa an sich haben, wenn sie sich von jener Pest innerlich aufzehren lassen. Darum steht geschrieben: „Des Fleisches Leben ist ein gesundes Herz; Knochenfäulnis ist der Neid.“3 Was bedeutet das Fleisch als das Schwache und Zarte, was die Knochen als kräftige Taten? Häufig kommt es ja vor, daß Menschen mit unschuldigem Herzen in manchen ihrer Werke schwach sind, andere aber zwar vor den Augen der Menschen große Dinge verrichten, jedoch innerlich an der Pest des Neides über das Gute anderer kranken. Mit Recht heißt es also: „Des Fleisches Leben ist ein gesundes Herz“; denn bei einem unschuldigen Herzen kräftigt sich nach und nach, was in den äußeren Werken noch schwach ist. Und treffend ist beigefügt: „Knochenfäulnis ist der Neid“, weil durch das Laster des Neides in Gottes Augen zugrunde geht, was in den Augen der Menschen als kraft- S. 156 voll erscheint. Knochenfäulnis infolge des Neides bedeutet den Verlust der Kraft.