XI. Kapitel: Wie Aufrichtige und wie Unaufrichtige zu ermahnen sind
Anders muß man Aufrichtige, anders Unaufrichtige ermahnen. Aufrichtige muß man loben wegen ihres Strebens, nie eine Unwahrheit zu sagen, aber ihnen auch ins Gedächtnis rufen, daß man bisweilen die Wahrheit verschweigen muß. Denn wenn es auch wahr ist, daß die Lüge immer den Lügner schlägt, so hat auch die Wahrheit schon bisweilen denen geschadet, die sie gehört haben. Darum schweigt der Herr und schließt seine Rede an die Jünger mit den Worten: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen.“1 Man muß also die Aufrichtigen ermahnen, die Wahrheit immer nur in nutzbringender Weise vorzubringen, so wie sie ja auch immer in nutzbringender Weise die Lüge meiden. Man muß sie ermahnen, mit der Tugend der Aufrichtigkeit die Klugheit zu verbinden; sie sollen in ihrer Aufrichtigkeit ein solch sicheres Verhalten besitzen, daß sie die vorsichtige Klugheit darüber nicht verlieren. Deshalb sagt der Völkerlehrer: „Ich wünsche, daß ihr weise seid im Guten, einfältig aber im Bösen.“2 Deshalb ermahnt auch die Wahrheit selbst ihre Auserwählten: „Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben!“3 Denn in den Herzen der Auserwählten muß Schlangenklugheit der Taubeneinfalt Scharfsinn verleihen und muß Taubeneinfalt die Schlangenklugheit mildern; sie dürfen nicht von der Klugheit sich verleiten lassen und allzu schlau werden, noch aus Einfalt die Übung des Verstandes preisgeben.
Den Unaufrichtigen muß man die beschwerliche Last vorhalten, die sie zugleich mit der Sünde ihrer Doppel- S. 157 züngigkeit zu tragen haben. Denn aus Furcht, entdeckt zu werden, suchen sie stets neue verwerfliche Ausflüchte und werden unablässig von Furcht und Argwohn geängstigt. Nichts verteidigt sich dagegen besser als die Aufrichtigkeit, nichts ist leichter zu reden als die Wahrheit. Denn wenn das Herz genötigt ist, seine Unaufrichtigkeit zu decken, ist es schwerer Mühe unterworfen. Darum steht geschrieben: „Das Unheil ihrer Lippen wird auf sie selber fallen.“4 Jetzt werden sie von dieser innerlichen Mühe ganz in Beschlag genommen, dann aber werden sie von ihr bedeckt werden.5 Jetzt kann diese Mühe die Seele noch mit beschönigender Unruhe beschwichtigen, dann aber wird sie die härteste Vergeltung mit sich bringen. Darum heißt es bei Jeremias: „Sie lehrten ihre Zunge, Lüge zu reden, und gaben sich Mühe, böse zu handeln,“6 das heißt so viel als: Sie hätten ohne Mühe Freunde der Wahrheit sein können, sie geben sich aber eigens Mühe zu sündigen; ein Leben in Einfalt weisen sie zurück, suchen aber Tod bringende Mühen. Denn auch wenn sie in ihrem Fehler ertappt werden, wollen sie sich doch nicht zu erkennen geben, sondern suchen sich unter dem Schleier der Lüge zu verbergen und entschuldigen ihren Fehler, der doch offen daliegt, auf alle mögliche Weise. Dadurch wird oft derjenige, der ihre Fehler zurechtweisen will, durch ein wahres Lügengespinst irregeführt, und es entweicht ihm wieder, was er schon ganz fest in Händen zu haben glaubte. Darum sagt der Prophet mit Recht unter dem Bilde Judaeas von der sündigen und Ausflüchte suchenden Seele: „Dort hat der Igel seine Höhle.“7 Unter Igel wird hier das doppelzüngige Gebaren der unaufrichtigen, sich schlau beschönigenden Seele bezeichnet. Denn in dem Augenblick, wo man einen Igel ergreifen will, sieht man seinen Kopf und seine Füße und überhaupt den ganzen Körper; kaum aber hat man ihn angegriffen, so rollt er sich S. 158 in eine Kugel zusammen, zieht die Füße ein, verbirgt den Kopf, und von dem, was man vorher in der Hand hatte, ist nichts mehr zu sehen. So machen es die unaufrichtigen Seelen, wenn man sie auf ihren Abwegen überrascht. Man sieht den Kopf des Igels, weil man weiß, wie der Sünder mit seinem Fehler begann; man sieht des Igels Füße, indem man alle die Spuren der Sünde kennt; doch da zieht der Unaufrichtige die Füße einwärts, indem er allerlei Entschuldigungen vorbringt und alle Spuren seines Fehlers verwischt. Er versteckt den Kopf, indem er mit erstaunlicher Verteidigungskunst darlegt, daß er nicht einmal den Anfang mit etwas Bösem gemacht habe. Und nichts als eine Kugel bleibt in der Hand; denn der Zurechtweisende sieht auf einmal alles, was er gewußt hatte, hinweggedeutet und hat einen Sünder vor sich, der sich in den Mantel seines Gewissens hüllt; er hat das Ganze aufgedeckt und gesehen, aber durch die Winkelzüge einer unredlichen Verteidigung hintergangen, weiß er nun von allem wieder nichts. Der Igel hat also seine Höhle in den Unredlichen; denn die böswillige Seele zieht sich in ihrer Verschlagenheit in sich selbst zusammen und verbirgt sich in den Dunkelgängen ihrer Verteidigung.
Die Unaufrichtigen sollen vernehmen, was die Schrift sagt: „Wer einfältig wandelt, der wandelt sicher.“8 Denn große Sicherheit ist die Frucht geraden Handelns. Sie sollen vernehmen, was der Mund des Weisen spricht: „Der Heilige Geist der Zucht flieht vor dem Heuchler.“9 Sie sollen vernehmen, was abermals die Schrift bezeugt: „Mit den Einfältigen redet Gott.“10 Gott redet, wenn er durch das Licht seiner Gegenwart menschlichen Seelen seine Geheimnisse offenbart. Mit den Einfältigen redet er, wenn er mit einem Strahle seiner Heimsuchung jenen Seelen die himmlischen Geheimnisse enthüllt, welche kein Schatten der Falschheit verdunkelt. Das besondere Unglück der Unaufrichtigen besteht aber darin, daß sie S. 159 ihrer Klugheit im Vergleich zu andern sich noch rühmen, während sie dieselben durch ihre verkehrte und heuchlerische Handlungsweise täuschen. Ohne an die drohende Strafe zu denken, geben sie sich noch einer traurigen Freude über ihren eigenen Schaden hin. Sie sollen aber vernehmen, was für ein göttliches Strafgericht ihnen der Prophet Sophonias ankündigt, wenn er sagt: „Siehe, es kommt der Tag des Herrn, der große und furchtbare; ein Tag des Zornes ist jener Tag, ein Tag der Finsternis und des Dunkels, ein Tag des Gewölkes und des Wetters, ein Tag der Posaune, die da schallet wider die festen Städte und wider die hohen Ecktürme.“11 Was bedeuten die festen Städte als die argwöhnischen, immer mit lügenhafter Verteidigung verschanzten Seelen, welche niemals, so oft ihnen auch ein Fehler vorgehalten wird, sich von den Pfeilen der Wahrheit treffen lassen? Was ist mit den hohen Ecktürmen gemeint als die doppelzüngigen Herzen? An den Ecken sind ja immer zwei Wände. Sie fliehen die einfache Wahrheit und hüllen sich ganz in ihre verkehrte Falschheit ein; ja, was noch ärger ist: sie sind noch stolz auf ihre Klugheit und bilden sich auf ihre sündhafte Schlauheit noch etwas ein. Ein Tag voll Rache und voll Strafe kommt aber über die festen Städte und über die hohen Ecktürme, weil der Zorn Gottes beim Jüngsten Gerichte auch jene Menschenherzen zerschmettert, die durch ihre Entschuldigungen sich der Wahrheit verschlossen, und enthüllt, was sich in Heuchelei versteckt. Dann fallen die festen Städte; denn die Seelen, die nie für Gott zugänglich waren, werden verdammt. Dann stürzen die hohen Ecktürme zusammen; denn die Herzen, die sich wegen ihrer unaufrichtigen Klugheit so hoch emporgerichtet hatten, werden durch ein gerechtes Urteil zu Boden geschmettert.