XVI. Kapitel: Wie man Sanftmütige und wie man Zornige ermahnen muß
Anders muß man Sanftmütige, anders Zornige ermahnen. Oft geben sich Sanftmütige, wenn sie ein Vorsteheramt erhalten, einer nahe-, ja nächstliegenden Lauheit hin und lassen durch zu große Milde die Zügel strenger Zucht unnötiger Weise erschlaffen. Kommen dagegen Zornmütige an eine leitende Stelle, so bringen sie durch ihren Zorn und ihre stürmische Leidenschaft auch ihre Untergebenen in Unruhe und Verwirrung. Ihr Zorn treibt sie zu weit, und sie wissen gar nicht mehr, wie sie selbst darunter leiden. Es kommt aber auch vor — und das ist noch bedenklicher —, daß sie ihren Zorn für gerechten Eifer halten; und wenn man einmal den Fehler für Tugend ansieht, häuft man furchtlos Schuld auf Schuld. Die Sanftmütigen sind also oft zu lässig in Aufrechterhaltung der Zucht, die Zornmütigen dagegen fehlen durch übergroßen Eifer; bei jenen gesellt sich unbe- S. 176 merkt ein Fehler zur Tugend, diese aber halten ihren Fehler für glühenden Tugendeifer. Jene muß man mahnen, das zu fliehen, was ihnen so nahe liegt, diese, daß sie darauf achten, was in ihnen vorgeht. Jene sollen erkennen, was sie nicht haben, diese was sie in Wirklichkeit haben. Die Sanftmütigen sollen sich Eifer und Sorgsamkeit angelegen sein lassen, die Zornmütigen Leidenschaft und Heftigkeit ablegen. Die Sanftmütigen muß man ermuntern, sich auch des Eifers für die Gerechtigkeit zu befleißigen, die Zornmütigen aber ermahnen, daß sie mit ihrem vermeintlichen Eifer auch Sanftmut verbinden sollen. Deshalb zeigte sich uns der Heilige Geist in Gestalt einer Taube und in Feuersgestalt, weil er alle, die er erfüllt, durch Taubeneinfalt sanftmütig und durch Feuereifer glühend macht.
Es ist demnach einer nicht vom Heiligen Geist erfüllt, wenn er entweder in stiller Sanftmut die Glut des Eifers erlöschen läßt, oder wenn er in der Hitze seines Eifers die Tugend der Sanftmut verliert. Deutlicher vielleicht können wir das zeigen, wenn wir die Lehrweise des hl. Paulus als Beispiel anführen, der zwei Schülern, die die ganz gleiche Liebe besaßen, doch verschiedene Ratschläge für ihre Predigtweise erteilt. Den Timotheus nämlich ermahnt er: „Weise zurecht, bitte, tadle in aller Geduld und Lehrweisheit.“1 Dem Titus dagegen gibt er die Mahnung; „So rede und ermahne und weise zurecht mit allem Nachdruck.“2 Warum wägt er bei dieser Mahnung seine Worte so sorgfältig ab und empfiehlt dem einen, seine Autorität geltend zu machen, dem andern aber, Geduld zu üben? Ist das nicht durch seine Ansicht zu erklären, daß Titus eine sanftmütige, Timotheus eine etwas feurige Gemütsart habe? Jenen feuert er an und flößt ihm Eifer ein, diesen mäßigt er durch Milde und Geduld. Jenem gibt er, was ihm fehlt, diesem nimmt er, was er zuviel besitzt. Jenen sucht er anzuspornen, diesen im Zaume zu halten. Als großer Weingärtner der S. 177 ihm anvertrauten Kirche bewässert er die einen Reben, damit sie ins Wachstum kommen; die andern, die er zu viel wachsen sieht, beschneidet er, weil sonst die einen, die nicht wachsen wollen, keine Früchte tragen, die andern aber, die zu stark wachsen, die Früchte, die sie schon angesetzt haben, wieder abwerfen.
Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen dem Zorn, der unter dem Scheine des Eifers sich einschleicht, und jenem Zorn, der ein leidenschaftliches Herz selbst ohne gerechten Vorwand in Verwirrung setzt. Jener ist eine ungeordnete Aufregung auf dem Gebiete der Pflicht; dieser aber zeigt sich immer da, wo von Pflicht nicht die Rede ist. Dadurch unterscheiden sich, wie man wohl beachten muß, die Zornmütigen von den Ungeduldigen, daß diese nicht ertragen wollen, was ihnen von andern zugefügt wird, jene aber selbst andern zu ertragen geben. So lassen die Zornmütigen selbst jene nicht in Ruhe, die ihnen ausweichen, suchen einen Anlaß zum Streite und freuen sich am leidigen Hader; man bessert sie am ehesten, wenn man ihnen, solange sie sich in zorniger Aufregung befinden, ausweicht. Solange sie in ihrer Aufregung sind, wissen sie nicht, was sie hören; wenn sie aber wieder zur Besinnung kommen, nehmen sie umso lieber die Mahnworte an, je mehr sie sich vor denen schämen, die sie in so großer Ruhe ertragen haben. Einem im Zorn entbrannten Gemüt erscheint aber alles verkehrt, was man vorbringt, es mag noch so vernünftig sein. Darum sagte Abigail dem Nabal, als er berauscht war, in lobenswerter Weise nichts von seiner Schuld, hielt sie ihm aber ebenso lobenswert vor, als er wieder nüchtern geworden.3 Denn deshalb konnte er den begangenen Fehler einsehen, weil man ihm während seines Rausches davon geschwiegen hatte.
Wenn aber die Zornmütigen andern so zusetzen, daß man ihnen nicht mehr ausweichen kann, so soll man sie nicht geradezu ausschelten, sondern mit einer S. 178 gewissen rücksichtsvollen Scheu sie schonend zurechtweisen. Wir machen das am besten klar, wenn wir die Geschichte von Abner anführen. Als ihn Asael mit unvorsichtiger Hast angriff, erzählt die Hl. Schrift: „Es sprach Abner zu Asael: Geh’, verfolge mich nicht, damit ich nicht gezwungen sei, dich niederzustechen. Aber er verschmähte zu hören und wollte nicht aus dem Wege gehen; da stieß ihn Abner mit dem unteren Teile des Spießes in den Unterleib und durchstach ihn, und er starb.“4 War da Asael nicht ein Bild jener, die der Jähzorn zu weit treibt? Bei einem solchen Anfall muß man ihnen um so sorgfältiger aus dem Wege gehen, je größer ihre Wut ist. Deshalb floh auch Abner, dessen Name in unserer Sprache „Leuchte des Vaters“ bedeutet; so will auch die Zunge heiliger Lehrer, welche das von oben kommende Licht Gottes andeutet, gleichsam einen Verfolger nicht töten, wenn sie sehen, daß jemandes Gemüt von Zorneswallungen sich fortreißen läßt, und den Zornigen nicht mit ihren Worten treffen wollen. Wenn aber die Zornmütigen durch keine Überlegung sich beruhigen und wie Asael nicht ablassen, zu drängen und zu wüten, so dürfen diejenigen, welche die Rasenden zur Vernunft zu bringen suchen, nicht selbst in Zorn geraten, sondern müssen die volle Ruhe bewahren und in aller Klugheit etwas Passendes vorbringen, was auf das aufgebrachte Gemüt Eindruck machen kann. Daher durchbohrte auch Abner seinen Verfolger, als er sich gegen ihn stellte, nicht mit dem oberen, sondern mit dem unteren Teil der Lanze. Mit der Lanzenspitze töten, hieße, mit der Entschiedenheit offenen Tadels dem Gegner gegenübertreten. Mit dem unteren Teil der Lanze aber den Verfolger töten, das heißt, den Rasenden ruhig durch verschiedene Dinge zu treffen suchen und ihn gleichsam durch Schonung besiegen. Asael aber fällt sogleich, weil die erzürnten Gemüter sogleich vom Gegenstand ihres Zornes ablassen, wenn sie merken, daß S. 179 man ihrer schont, und sie doch durch die vernünftigen Antworten gerade wegen ihrer Ruhe ins Herz getroffen werden. Die also von ihrer Hitze und Heftigkeit bei milder Behandlung ablassen, die sterben gleichsam, ohne daß ein Eisen sie trifft.