XVII. Kapitel: Wie man Demütige und wie man Stolze ermahnen muß
Anders muß man die Demütigen, anders die Hochmütigen ermahnen. Jenen muß man sagen, auf welch wahre Auszeichnung sie hoffen; diese aber muß man daran erinnern, wie nichtig die zeitliche Ehre ist und daß sie sie nicht festhalten können, auch wenn sie noch so sehr an ihr hängen. Die Demütigen sollen vernehmen, wie unvergänglich ist, was sie anstreben, und wie vergänglich, was sie verachten; die Stolzen sollen vernehmen, wie vergänglich das ist, wonach sie verlangen, wie unvergänglich das, was sie verlieren. Die Demütigen sollen aus dem Lehrmunde der Wahrheit vernehmen: „Ein jeder, der sich selbst erniedriget, wird erhöhet werden“;1 die Stolzen sollen vernehmen: „Ein jeder, der sich selbst erhöhet, wird erniedriget werden.“2 Die Demütigen sollen hören: „Demut geht der Ehre voraus“,3 die Stolzen: „Hochmut geht dem Falle vorher.“4 Die Demütigen sollen hören: „Auf wen anders blicke ich als auf den Armen und den, der zerknirschten Herzens ist, und den, der zittert bei meinen Worten?“5 Die Stolzen: „Was überhebt sich Erde und Staub?“6 Die Demütigen sollen hören: „Gott schaut auf das Niedrige“, die Stolzen: „Und er erkennt das Hohe von ferne.“7 Die Demütigen sollen hören, daß „des Menschen Sohn nicht gekommen ist, bedient zu werden, sondern zu dienen,“8 die Stolzen, daß „die Hoffart der S. 180 Anfang aller Sünde ist.“9 Die Demütigen sollen hören, daß unser Erlöser „sich selbst erniedrigt hat und gehorsam wurde bis zum Tode des Kreuzes“,10 die Stolzen, daß von ihrem Oberhaupte geschrieben steht: „Er ist der König über alle Kinder des Stolzes.“11 Der Anlaß zu unserm Falle war also der Stolz des Teufels, und in der Verdemütigung Gottes wurde das Mittel zu unserer Erlösung gefunden. Denn unser Feind, ein Geschöpf wie alle andern, wollte über alles erhaben sein; unser Erlöser, der über alles erhaben bleibt, würdigte sich, der Geringste in allem zu werden.
Man sage also den Demütigen, daß sie gerade durch ihre Selbsterniedrigung zur Ähnlichkeit mit Gott emporsteigen; man sage den Stolzen, daß sie durch ihre Selbsterhöhung in Nachahmung des abtrünnigen Engels verfallen. Was ist also kleiner als die Selbsterhöhung, die über sich selbst hinaus will und dadurch alle wahrhafte Größe verliert? Und was ist größer als die Demut, die sich tief hinunter beugt und gerade dadurch mit dem Schöpfer, dem ewigen Herrn über alle Dinge, sich vereinigt? Dabei ist ein anderer Punkt noch besonders zu beachten: manche lassen sich nämlich durch den Schein der Demut täuschen, und manche wissen es gar nicht, daß sie stolz sind. So sind oft solche, die sich für demütig halten, von ungehöriger Menschenfurcht erfüllt, während bei den Stolzen sich meistens eine rücksichtslose Redeweise findet. Gilt es, Fehler vorzuhalten, so schweigen jene aus Menschenfurcht und glauben, aus Demut so zu handeln; diese reden mit stolzem Unwillen, glauben aber, hierbei nur freimütige Aufrichtigkeit zu üben. Jene hält sündhafte Furchtsamkeit unter dem Schein der Demut von der Rüge böser Dinge ab, diese treibt unter dem Vorwand der Freimütigkeit zügelloser Stolz entweder zu unbegründetem oder zu übertriebenem Tadel. Darum muß man die Stolzen ermahnen, nicht über Gebühr sich Freiheit zu nehmen, und die De- S. 181 mütigen, nicht mehr als nützlich ist, sich gefügig zeigen. Jene sollen die Verteidigung der Gerechtigkeit nicht zur Ausübung ihres Stolzes mißbrauchen; diese sollen nicht durch übermäßiges Streben, sich den Menschen gefällig zu erweisen, sich sogar noch zur Huldigung vor ihren Lastern bewegen lassen.Doch muß man in Betracht ziehen, daß die Zurechtweisung bei den Stolzen oft einen größeren Erfolg hat, wenn wir dem Tadel einiges Lob als Linderungsmittel beimischen. Man kann des Guten, das an ihnen ist, Erwähnung tun, oder, falls nichts Gutes an ihnen ist, ihnen doch sagen, was Gutes an ihnen sein könnte; dann erst, wenn das Lob ihrer Vorzüge das Gemüt zur Anhörung geneigt gemacht hat, können wir daran gehen, ihnen die Fehler, die uns mißfallen, abzustellen. So streicheln wir auch unbändige Pferde zuerst mit der Hand, um sie später sogar durch die Peitsche uns ganz gefügig zu machen. Man tut ja auch in den Becher mit der bitteren Arznei etwas Honig, damit man beim Nehmen des heilenden Trankes die Bitterkeit nicht so sehr fühlt; obwohl so der Geschmack durch das Süße getäuscht wird, so wird doch durch die bittere Arznei der Todesstoff aus dem Körper entfernt. So muß man also schon gleich zu Anfang bei den Stolzen die Rüge durch Beimischung von Lob mildern, damit sie, wie sie sich das gern gehörte Lob gefallen lassen, auch den Tadel annehmen, von dem sie sonst nichts hätten hören wollen.
Oft gelingt es uns, Stolze zum Guten zu bewegen, wenn wir die Sache so darstellen, als würde ihre Besserung mehr uns als ihnen nützlich sein, und sie deshalb bitten, sie möchten sie mehr aus Liebe zu uns als zu sich selbst bewerkstelligen. Denn der Stolze läßt sich leicht zu etwas Gutem bewegen, wenn er glauben kann, hierdurch auch andern zu nützen. Als zum Beispiel Moses auf dem Weg durch die Wüste, wo Gott ihn lenkte und die Wolkensäule den Weg wies, seinen Vetter Hobab vom heidnischen Wandel bekehren und der Herr- S. 182 schaft des allmächtigen Gottes unterwerfen wollte, sprach er: „Wir brechen jetzt nach dem Orte auf, welchen der Herr uns geben wird; denn der Herr hat Israel Gutes verheißen.“ Und er antwortete ihm: „Ich werde nicht mit dir ziehen, sondern in mein Land zurückkehren, in dem ich geboren bin.“ Da entgegnete ihm Moses: „Verlaß uns nicht; denn du weißt, an welchen Stellen wir in der Wüste ein Lager aufschlagen können, und sollst unser Führer sein.“12 Moses hatte keine Angst wegen der Unkenntnis des Weges, da ihn die Erkenntnis Gottes bis zum prophetischen Wissen erhoben hatte, da die Wolkensäule sichtbar voranging und da ihn wegen des häufigen Verkehrs mit Gott eine vertraute Stimme innerlich über alles belehrte. Aber der kluge Mann hatte mit einem Stolzen zu tun und bat ihn deshalb um Beistand, damit er selbst ihm solchen leisten könne; er erbat sich ihn als Wegweiser, um ihm den Weg zum Leben zeigen zu können. Es war ihm also darum zu tun, den stolzen Mann gutem Rat geneigt zu machen; er sollte als notwendig erscheinen und um so lieber auf die Worte seines Mahners eingehen, je mehr er ihn durch seine Stellung zu übertragen meinte.