XX. Kapitel: Wie man diejenigen behandeln soll, die das Ihrige verteilen, und wie diejenigen, die fremdes Gut an sich reißen
Anders muß man diejenigen behandeln, die vom Ihrigen schon barmherzig mitteilen, anders diejenigen, welche noch fremdes Gut an sich zu reißen suchen. Diejenigen nämlich, welche vom Ihrigen barmherzig austeilen, muß man ermahnen, nicht stolz zu werden und sich über die zu erheben, denen sie irdische Gaben spenden; sie sollen sich auch nicht deshalb für etwas Besseres halten, weil sie sehen, daß andere von ihnen unterhalten werden. In einem irdischen Hause verteilt der Herr die Rangordnung seiner Diener, weist ihnen ihre Dienste an und bestimmt die einen zu Vorstehern die andern zu ihren Untergebenen. Jene weist er an, den übrigen das Nötige zu reichen, diese, es von den andern in Empfang zu nehmen. Da kommt es nun sehr oft vor, daß die in Ungnade fallen, welche den übergeordneten Posten einnehmen, während ihre Untergebenen beim Hausvater in Gunst bleiben. Die Verwalter ziehen sich Unwillen zu, während die von ihnen Abhän- S. 190 gigen ohne Tadel ausgehen. Darum muß man diejenigen, welche vom Ihrigen in Barmherzigkeit mitteilen, ermahnen, sich als Verwalter zu betrachten, die der himmlische Herr hier über irdische Mittel gesetzt hat; um so demütiger sollen sie dann sein, da das, was sie austeilen, eigentlich gar nicht einmal ihnen gehört. Wenn sie dann bedenken, daß sie zum Dienste derjenigen, denen sie Empfangenes weitergeben, bestellt sind, so soll nicht Stolz, sondern Furcht ihr Herz erfüllen. Sorgfältig müssen sie darauf achten, daß sie ihr Anvertrautes nicht schlecht verteilen, nicht denen etwas geben, denen sie nichts geben sollten, oder denen nichts, denen sie etwas, vieles, wo sie wenig, wenig, wo sie vieles geben sollten; nicht in Übereilung ihre Gaben nutzlos verschwenden, nicht durch Verzögerung die Bittenden quälen und peinigen, nicht das Verlangen nach Dank einschleichen lassen; nicht das Licht des Almosens durch das Verlangen nach vergänglichem Lob auslöschen; nicht traurig nochmal nach der Gabe schauen; nicht über Gebühr sich über ein gut gespendetes Almosen freuen; nichts, wenn alles recht geschehen ist, sich selbst zuschreiben, weil sonst alles wieder verloren wäre. Damit sie nicht die Tugend der Freigebigkeit sich selbst zuschreiben, sollen sie hören, was geschrieben steht: „Wenn jemand dient, so diene er als aus der Kraft, die Gott spendet.“1 Damit sie sich nicht einer allzu großen Freude über ihre guten Werke hingeben, sollen sie das Wort der Schrift vernehmen: „Wenn ihr alles getan habet, was euch geboten worden ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur getan, was wir schuldig waren zu tun.“2 Damit nicht Traurigkeit ihre Freigebigkeit entwerte, sollen sie das Wort vernehmen: „Einen freudigen Geber liebt Gott.“3 Vor dem Streben, durch das Almosengeben vergängliches Lob zu ernten, bewahre sie das Wort: „Deine Linke wisse nicht, was deine Rechte tut“,4 d. h. dem frommen Almosen hafte S. 191 kein zeitlicher Ruhm an; die Lobsucht soll vielmehr von einem guten Werke nichts wissen. Vor dem Verlangen nach Dank und Wiedervergeltung bewahre sie das Wort: „Wenn du ein Mittag- oder Abendmahl gibst, so lade nicht deine Freunde ein noch deine Brüder noch Verwandte noch reiche Nachbarn, damit sie dich nicht etwa wieder einladen und dir wieder vergolten werde; sondern wenn du ein Gastmahl gibst, so lade Arme, Schwache, Lahme und Blinde ein; und selig wirst du sein, weil sie dir nicht vergelten können!“5 Damit sie nicht, wenn man schnell geben muß, mit ihrer Gabe zu spät kommen, sollen sie das Wort vernehmen: „Sage nicht zu deinem Nächsten: Gehe fort und komm wieder, morgen will ich dir geben, wenn du sogleich geben kannst.“6 Gegen nutzlose Vergeudung des Eigentums unter dem Vorwand der Freigebigkeit steht geschrieben: „Es schwitze das Almosen in deiner Hand.“ Auf daß man nicht, wo viel not tut, nur Weniges gebe, beherzige man das Wort: „Wer spärlich sät, der wird auch spärlich ernten.“7 Für jene, die sehr viel geben, wo nur wenig nottut, dadurch selbst in Not geraten und sich zur Ungeduld hinreißen lassen, steht geschrieben: „Nicht sollen andere Erleichterung, ihr aber Trübsal haben, sondern auf gleiche Weise soll euer Überfluß ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluß eurem Mangel abhelfe.“8 Denn wenn des Gebers Herz den Mangel nicht zu ertragen weiß, bereitet er sich, indem er sich das Viele entzieht, eine Gelegenheit zur Ungeduld zu seinem eigenen Schaden. Zuerst muß man die Seele zur Geduld bereiten, dann erst vieles oder alles herschenken; denn wenn man in Not gerät und sie wenig gleichmütig erträgt, verliert man den Lohn für die frühere Freigebigkeit und schadet sich noch überdies durch das Murren. Daß man nicht ohne alle Gabe entlasse, denen man doch etwas Weniges geben sollte, lehrt die Schrift mit den Worten: „Gib je- S. 192 dem, der dich bittet.“9 Daß man aber denen, welchen man überhaupt nichts geben soll, auch nicht eine Kleinigkeit verabreichen darf, lehrt uns die Schrift, wenn sie sagt: „Gib dem Guten und nimm dich des Sünders nicht an. Tue dem Demütigen Gutes und gib dem Gottlosen nichts!“10 Und an einer anderen Stelle: „Dein Brot und deinen Wein verwende auf das Begräbnis des Gerechten und iß und trink davon nicht mit den Sündern.“11 Sein Brot und seinen Wein gibt den Sündern, wer den Bösen Unterstützung für ihre Sünden zukommen läßt. So halten sich manche Reiche dieser Welt mit verschwenderischer Freigebigkeit Schauspieler, während die Armen Christi hungern müssen. Wer aber dem bedürftigen Sünder sein Brot mitteilt, nicht weil er ein Sünder, sondern weil er ein Mensch ist, der ernährt nicht den Sünder, sondern den gerechten Armen; denn er liebt an ihm nicht die Sünde, sondern die Natur.
Auch muß man diejenigen, welche das Ihrige mit Barmherzigkeit ausspenden, ermahnen, sich mit aller Sorgfalt vor neuen Sünden, die wiederum des Loskaufes bedürfen, zu hüten, während sie ihre begangenen Sünden mit Almosen gutzumachen suchen; denn man darf die Gerechtigkeit Gottes nicht für käuflich halten, so daß man glaubt, man dürfe ungestraft sündigen, wenn man nur dafür sorgt, daß für die Sünden Almosen gegeben wird. Denn „die Seele ist mehr als die Speise und der Leib mehr als das Kleid“.12 Wer also Speise oder ein Kleid den Armen schenkt, aber dessenungeachtet die Seele oder den Leib mit Sünden befleckt, der opfert der Gerechtigkeit das Geringere und der Sünde das Größere; sein Besitztum gibt er Gott, sich selbst aber dem Teufel. Hingegen muß man diejenigen, welche noch fremdes Gut an sich zu reißen trachten, zur sorgfältigen Erwägung der Worte ermahnen, welche der Herr sprechen wird, wenn er zum Gerichte kommt: „Ich war hungrig, und ihr habt mich nicht gespeist; ich war durstig, und S. 193 ihr habt mich nicht getränkt; ich war fremd, und ihr habt mich nicht beherbergt; ich war nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich war krank und im Kerker, und ihr habt mich nicht besucht.“13 Schon vor diesen Worten sagt er: „Weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, welches dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist!“14 Siehe, es heißt nicht, daß sie Räubereien und andere Gewalttaten begangen hätten, und doch werden sie dem ewigen Höllenfeuer überantwortet. Daraus kann man also schließen, welch schrecklicher Verdammnis diejenigen anheimfallen, welche andern ihr Hab und Gut nehmen, wenn schon diejenigen so furchtbar gestraft werden, die das Ihrige zu fest beisammen hielten. Sie sollen erwägen, welche Schuld sie durch widerrechtliche Aneignung sich zuziehen, da schon die Vorenthaltung solcher Strafe unterliegt. Sie sollen erwägen, was eine zugefügte Ungerechtigkeit verdient, wenn schon ein nicht erwiesenes Liebeswerk solcher Strafe schuldig ist.
Wenn sie fremdes Gut an sich zu reißen suchen, so sollen sie hören, was geschrieben steht: „Wehe dem, der aufhäuft, was nicht sein ist; auf wie lange häuft er sich dichten Kot zusammen?“15 Das trifft beim Geizhals zu; er häuft sich dichten Kot zusammen, wenn er sündhaften irdischen Gewinn zusammenscharrt. Wenn sie ihre großen Wohnungen noch erweitern wollen, so sollen sie hören: „Wehe euch, die ihr Haus an Haus reihet und Acker mit Acker verbindet, bis kein Platz mehr übrig ist! Wollt ihr denn allein wohnen im Lande?“16 Der Prophet will damit sagen: Wohin wollt ihr euch denn noch ausbreiten, wenn ihr auf der Welt, die allen gehört, keine Nachbarn haben wollt? Eure Nachbarn dränget ihr weg, aber immer wieder findet ihr andere, deren Besitz ihr auch noch euer nennen könntet. Geht ihr Trachten auf S. 194 Geldgewinn, so sollen sie hören, was dazu die Schrift sagt: „Der Geizige wird des Geldes nicht satt; und wer den Reichtum liebt, wird keinen Nutzen davon haben.“17 Ja, er hätte Nutzen von seinem Reichtum, wenn er sich nicht mit aller Liebe an ihn hängen, sondern ihn gut anwenden würde. Wenn er ihn aber liebt und deswegen zusammenhält, wird er ihn einst, ohne einen Nutzen davon zu haben, zurücklassen. Wenn sie alle Reichtümer, die es nur gibt, in sich vereinigen wollen, dann sollen sie hören, was die Schrift sagt: „Wer schnell reich werden will, bleibt nicht ohne Schuld.“18 Denn gewiß, wer nur die Vermehrung seines Reichtums im Auge hat, der denkt nicht daran, die Sünde zu meiden; wie ein Vogel wird er gefangen: er sieht ja nur auf zeitliche Güter wie auf eine Lockspeise, beachtet aber das Garn der Sünde nicht, das ihn erdrosseln soll. Wenn sie nach allem Gewinn dieser Welt verlangen und nichts von dem Verluste wissen wollen, den sie in der zukünftigen Welt erleiden werden, so sagt ihnen die Hl. Schrift: „Ein Erbe, nach dem man anfänglich hascht, wird zuletzt ohne Segen sein.“19 Von diesem Leben nehmen wir den Anfang, um zuletzt des Segens teilhaftig zu werden; wer also schon zu Anfang nach dem Erbe hascht, der beraubt sich am Ende des Segens; denn indem er sich hier durch das Laster des Geizes zu bereichern sucht, wird er in jener Welt vom ewigen Erbteil ausgeschlossen sein. Wenn sie sehr viele Wünsche haben oder alles, was sie begehren, zu erlangen vermögen, so sagt ihnen die Hl. Schrift: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet?“20 Damit will die ewige Wahrheit sagen: Was nützt es dem Menschen, wenn er alles, was außer ihm liegt, zusammenrafft und dabei gerade das, was er selbst ist, verdammt? Häufig aber kommt man bei der Besserung des Geizes der Habsüchtigen schneller zum Ziel, wenn der Mah- S. 195 nende ihnen zeigt, wie flüchtig das gegenwärtige Leben ist; wenn sie an solche Männer erinnert werden, die sich lange bemühten, in dieser Welt reich zu werden, und doch nicht lange im Besitz des Reichtums bleiben konnten; wie ihnen der rasche Tod schnell und auf einmal genommen, was ihre Sünde weder schnell noch auf einmal angesammelt hatte; wie sie nicht nur das Zusammengeraffte auf Erden zurücklassen, sondern dafür die Anklage auf Raub mit sich zum Gerichte bringen mußten. Sie sollen solche Beispiele hören, die sie ohne Zweifel selbst mit eigenen Worten verurteilen müssen; wenn dann nachher ihre Worte ihnen zum Bewußtsein kommen, werden sie sich wenigstens schämen, jenen nachzufolgen, die sie verurteilt haben.
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1 Petr. 4, 11. ↩
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Luk. 17, 10. ↩
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2 Kor. 9, 7. ↩
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Matth. 6, 3. ↩
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Luk. 14, 12 ff. ↩
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Sprichw. 3, 28. ↩
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2 Kor. 9, 6. ↩
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Ebd. 8, 13 f. ↩
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Luk. 6, 30. ↩
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Sir. 12, 5 f. ↩
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Tob. 4, 18. ↩
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Luk. 12, 23. ↩
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Matth. 25, 42 f. ↩
-
Ebd. 25, 41. ↩
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Habakuk 2, 6. ↩
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Is. 5, 8. ↩
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Pred. 5, 9. ↩
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Sprichw. 28, 20. ↩
-
Ebd. 20, 21. ↩
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Matth. 16, 26. ↩