XXI. Kapitel: Wie man diejenigen zu ermahnen hat, welche zwar fremdes Gut sich nicht aneignen wollen, aber ihr Eigentum festhalten, und wie diejenigen, welche von ihrem Eigentum mitteilen, dabei aber fremdes Gut an sich reißen
Anders muß man diejenigen ermahnen, welche zwar nach fremdem Gute nicht verlangen, aber auch von dem Ihrigen nichts herschenken, und anders diejenigen, welche zwar von ihrem Eigentum etwas austeilen, dabei aber nicht unterlassen, ihre Hand nach fremdem Gute auszustrecken. Diejenigen, welche weder etwas wollen noch etwas hergeben, muß man eindringlich darauf aufmerksam machen, daß die Erde, von der sie genommen sind, allen zusammen gehört und deshalb auch für alle gemeinschaftlich ihre Erzeugnisse hervorbringt. Mit Unrecht halten sie sich also für schuldlos, wenn sie die gemeinschaftliche Gottesgabe sich persönlich aneignen. Sie teilen vom Empfangenen nichts aus und werden fett, während ihre Nebenmenschen zugrundegehen; denn täg- S. 196 lich töten sie so viele, als Arme dahinsterben, für die sie den Unterhalt in ihr Besitztum gesteckt haben. Denn wenn wir den Hilfsbedürftigen das Notwendige darreichen, geben wir ihnen damit doch nur eigentlich das Ihrige und spenden ihnen nicht das Unsrige; wir leisten damit eher eine Pflicht der Gerechtigkeit, als daß wir Werke der Liebe verrichten. Darum sprach auch die ewige Wahrheit selbst in bezug auf die vorsichtige Übung der Barmherzigkeit: „Habet acht, daß ihr eure Gerechtigkeit nicht übet vor den Menschen!“1 Mit diesem Ausspruch stimmt auch der Psalmist überein, wenn er sagt: „Reichlich spendet er den Armen; seine Gerechtigkeit währt ewig.“2 Er spricht also zuerst von der Freigebigkeit gegen die Armen, heißt diese aber nicht Barmherzigkeit, sondern lieber Gerechtigkeit; denn es ist sicherlich gerecht, daß alle, die gemeinsam vom selben Herrn ihre Gaben empfangen, dieselben auch gemeinsam genießen. Darum sagt auch Salomon: „Wer gerecht ist, gibt ohne Unterlaß.“3 Auch muß man sie eindringlich darauf aufmerksam machen, daß der strenge Hausvater gegen den unfruchtbaren Feigenbaum die Klage vorbringt, daß er ihm den Boden einnehme. Ein unfruchtbarer Feigenbaum nimmt aber den Boden ein, wenn geizige Seelen nutzlos verwahren, was vielen nützen könnte. Ein unfruchtbarer Feigenbaum nimmt den Boden ein, wenn ein Tor den Platz, den ein anderer mit der Sonne guter Werke fruchtbar machen könnte, mit dem Schatten seiner Trägheit bedeckt.
Leute dieser Art sagen aber in der Regel: „Wir gebrauchen, was uns zusteht, wir wollen nichts von andern; und wenn wir auch nicht tun, was den Lohn der Barmherzigkeit verdient, so tun wir doch auch nichts Böses.“ Dies meinen sie, weil sie sich himmlischen Worten verschließen. Denn von jenem Reichen im Evangelium, der sich in Purpur und feine Leinwand kleidete und täglich glänzende Mahlzeit hielt, wird nicht gesagt, S. 197 er habe fremdes Gut an sich gerissen, sondern daß er, ohne irgendwie Nutzen zu stiften, sein Eigentum verwendete; nicht weil er etwas Unerlaubtes verübt hat, verschlang ihn nach diesem Leben zur Strafe die Hölle, sondern weil er in erlaubten Dingen sich ganz dem schrankenlosen Genuß hingegeben hat.
Den Geizigen muß man sagen, daß sie Gott, der ihnen alles gibt, vor allem dadurch eine Unbill zufügen, daß sie ihm kein Opfer der Barmherzigkeit entgegenbringen. Darum sagt der Psalmist: „Er wird Gott keine Sühnung bieten, noch den Lösepreis für seine Seele.“4 Den Lösepreis gibt man, wenn man die uns zuvorkommende Gnade mit einem guten Werke erwidert. Darum ruft Johannes aus: „Schon ist die Axt an die Wurzel des Baumes gesetzt. Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen werden.“5 Die sich also für schuldlos halten, weil sie kein fremdes Gut rauben, sollen acht haben, daß nicht die Axt sie treffe; sie sollen ihre Lauheit und sorglose Sicherheit ablegen; denn wenn sie nicht die Frucht guter Werke bringen wollen, werden sie aus diesem Leben wie von einer frischen Wurzel weg abgehauen werden.
Dagegen muß man diejenigen, welche von ihrem Besitztum mitteilen und doch nicht ablassen, fremdes Gut an sich zu reißen, ermahnen, sie sollten nicht nach dem Schein der Freigebigkeit streben und nicht unter dem Schein des Guten noch böser werden. Denn diese unklugen Ausspender ihres Vermögens verfallen nicht nur, wie schon oben erwähnt, in ungeduldiges Murren, sondern sie werden durch Not sogar zum Geiz getrieben. Kann es etwas Unglücklicheres geben als solche Seelen, denen aus ihrer Freigebigkeit Geiz hervorgeht, bei denen die Sündensaat gleichsam von der Tugend bestellt wird? Man muß sie also vor allem ermahnen, das Ihrige in vernünftiger Weise zusammenzuhalten, dann erst, nicht nach fremdem Gut Verlangen zu tragen. Denn wenn nicht mit S. 198 der Verschwendung die Wurzel der Sünde ausgerottet wird, vertrocknet an den Zweigen niemals der wuchernde Dorn des Geizes. Man entzieht aber die Gelegenheit zur ungerechten Aneignung, wenn man zuerst das Besitzrecht feststellt. Darauf sollen sie eine Ermahnung bekommen, wie sie von ihrem Besitztum mit Barmherzigkeit ausspenden können, wenn sie wirklich gelernt haben, Barmherzigkeit und Raub nicht miteinander zu vermengen. Denn so erpressen sie mit Gewalt, was sie dann in Barmherzigkeit spenden; aber es ist doch etwas Grundverschiedenes, für begangene Sünden Barmherzigkeit zu üben, und zu sündigen, um Barmherzigkeit üben zu können. Dies kann man nicht mehr Barmherzigkeit heißen; denn was durch eine giftige Wurzel bitter wird, kann nimmermehr zu einer süßen Frucht gedeihen. Daher kommt es, daß der Herr durch den Propheten sogar die Opfer verwirft, indem er sagt: „Ich, der Herr, liebe das Recht und hasse den Raub am Brandopfer.“6 Darum sagt er auch an einer andern Stelle: „Die Schlachtopfer der Gottlosen sind ein Greuel, weil sie aus sündhaft erworbenem Gute dargebracht werden.“7 Denn oft entzieht man auch den Armen, was man Gott schenkt. Aber wie sehr der Herr dies verabscheut und ablehnt, zeigt er uns durch den Weisen mit den Worten: „Wer ein Opfer von dem Gute eines Armen darbringt, gleicht dem, der den Sohn angesichts seines eigenen Vaters schlachtet.“8 Kann es etwas Härteres geben als den Tod eines Sohnes vor den Augen des Vaters? Der ganze Unwille, mit dem Gott auf ein solches Opfer herabsieht, tritt dadurch hervor, daß er mit dem Schmerz eines Vaters verglichen wird, der seinen Sohn verloren hat. Trotzdem wägen sie meist nur, was sie opfern; was sie aber nehmen, überlegen sie scheinbar nicht. Sie zählen gleichsam den Lohn,9 an ihre Sünden S. 199 aber wollen sie nicht denken. Sie sollen darum hören was geschrieben steht: „Wer Lohn sammelt, steckt ihn in einen durchlöcherten Beutel.“10 Hat der Beutel ein Loch, so sieht man zwar, wie man das Geld hineintut, aber man sieht nicht, wie es verlorengeht. Die also darauf sehen, wie viel sie hergeben, jedoch nicht bedenken, wie viel sie nehmen, legen ihren Lohn in einen durchlöcherten Beutel; sie legen ihn hinein, indem sie auf ihre Hoffnung vertrauensvoll hinblicken, schauen dann weg — und verlieren ihn.