XXXII. Kapitel: Wie man diejenigen ermahnen muß, welche in einer plötzlichen Aufwallung, und wie diejenigen, welche mit Überlegung sündigen
Anders muß man diejenigen ermahnen, welche von einer plötzlichen Begierde überwältigt werden, und anders diejenigen, die sich mit Überlegung in die Fesseln der Sünde begeben. Die von einem plötzlichen Anfall der Begierde überwältigt werden, sollen daran denken, daß sie sich täglich im Krieg des gegenwärtigen Lebens befinden und das Herz, das die Wunden nicht vorhersehen kann, mit dem Schilde sorgsamer Furcht decken; sie sollen sich vor den verborgenen Geschossen des listigen Feindes fürchten und in diesem umdunkelten Kampf durch beständige Wachsamkeit sich in der Burg ihrer Seele befestigen. Denn wenn das Herz aufhört, wachsam zu sein, gibt es sich den Wunden preis; und um so kühner stürmt der schlaue Feind auf die Seele ein, wenn sie nicht mit dem Panzer der Vorsicht gedeckt ist. Die sich von einem Anfall der Begierlichkeit überwältigen lassen, muß man ermahnen, sich mehr und mehr den allzu irdischen Sorgen zu entziehen, weil sie bei zu großer Aufmerksamkeit auf die vergänglichen Dinge nicht mehr sehen, welche Pfeile der Sünde sie treffen. Darum läßt Salomon einen, der sich im Schlaf schlagen läßt, also reden: „Sie haben mich geschlagen, aber es hat mir nicht weh getan; sie haben mich umhergeschleift, aber ich habe es nicht empfunden. Wann werde ich auf- S. 244 wachen und wieder Wein finden?“1 Die Seele wird nämlich von der Sorge, mit der sie sich zu schaffen macht, im Schlafe geschlagen, und es tut ihr nicht wehe; denn sie sieht weder die Gefahr der Sünde noch jene Sünden, die sie schon begangen hat. Sie wird umhergeschleift und empfindet es nicht; denn sie wird in die Lockungen der Sünde hineingezogen und erwacht nicht, um sich selbst zu behüten. Zu erwachen wünscht sie nur, um wieder Wein zu finden, d. h. obwohl sie im Schlaf der Lauigkeit an Wachsamkeit auf sich selbst nicht denkt, so möchte sie doch für weltliche Sorgen sich wach erhalten, um sich immer an Vergnügungen zu berauschen; und während sie schläft, wo sie eifrig wachen sollte, sucht sie bei anderm wach zu sein, wo sie löblicherweise schlafen könnte. Darum heißt es an jener Stelle unmittelbar vorher: „Und du wirst sein wie einer, der mitten auf dem Meere schläft, und wie ein Steuermann, der eingeschlafen und dem das Steuerruder entfallen ist.“2 Mitten auf dem Meere schläft, wer in den Versuchungen dieser Welt die drohenden Wogen der Leidenschaften nicht beachtet. Das Ruder ist dem Steuermann gleichsam entfallen, wenn die Seele das sorgfältige Streben aufgibt, das Schiff des Körpers zu lenken. Das Steuerruder verliert man auf dem Meere, wenn man in den Stürmen dieser Welt nicht sorgfältig seine Richtung einhält. Denn wenn der Steuermann das Ruder sorgfältig handhabt, so lenkt er das Schiff bald gerade gegen die Wellen, bald fährt er schräg gegen die Gewalt des Windes. Wenn der Geist mit ähnlicher Umsicht die Seele regiert, überwindet er bald das eine und tritt es mit Füßen; bald weicht er vorsichtig anderm aus, um sowohl das Gegenwärtige durch seine Bemühung sich zu unterwerfen, als auch gegen zukünftige Kämpfe sich durch Voraussicht zu stärken. Darum heißt es von den tapfern Streitern für das himmlische Vaterland: „Ein jeder trägt das Schwert an seiner Hüfte zur Abwehr S. 245 nächtlicher Schrecknisse.“3 Man hat das Schwert an seiner Seite, wenn man die böse Eingebung des Fleisches durch die Schärfe heiliger Predigt besiegt. Die Nacht bedeutet die Blindheit unserer Schwäche, weil man bei Nacht nicht sieht, welches Ungemach droht. Jeder hat sein Schwert an der Hüfte wegen der nächtlichen Schrecknisse, d. h. heilige Männer stehen immer in Kampfbereitschaft, wenn sie unsichtbare Gefahren zu fürchten haben. Darum heißt es von der Braut: „Deine Nase ist wie der Turm des Libanon.“4 Denn was wir mit den Augen nicht sehen, nehmen wir meistens durch den Geruch wahr. Durch die Nase unterscheiden wir auch guten und üblen Geruch. Was bedeutet also die Nase der Kirche als die sorgliche Vorsicht der Heiligen? Sie wird auch mit dem Turm auf dem Libanon verglichen, d. h. die sorgliche Vorsicht der Heiligen waltet in so großer Höhe, daß sie die Versuchungen, schon ehe sie kommen, sieht, und wenn sie da sind, ihnen vollgerüstet Widerstand leistet. Denn wenn man Kommendes voraussieht, so hat es, wenn es da ist, nicht mehr die große Gewalt, da sich jeder gegen den Stoß in Bereitschaft setzt und so der Feind, der sich für unentdeckt hielt, schon dadurch, daß man ihn beobachtete, geschwächt ist. Diejenigen dagegen, welche sich mit Überlegung von der Sünde fesseln lassen, muß man zu ernster Erwägung mahnen, daß sie sich ein strenges Gericht zuziehen, weil sie das Böse mit klarem Bewußtsein tun; eine um so strengere Strafe wird sie treffen, je fester die Bande der Überlegung sie in der Sünde fesseln. Sie würden vielleicht schneller ihre Sünden durch Buße tilgen, wenn sie nur aus Übereilung in sie gefallen wären; aber nur langsam wird das Sündenband gelöst, das man wohlbedacht geknüpft hat. Denn würde die Seele das Ewige nicht ganz und gar geringschätzen, so würde sie nicht mit voller Überlegung sündigen. Dadurch unterscheiden sich also diejenigen, welche mit Überlegung S. 246 sich ins Verderben stürzen, von denen, die nur aus Übereilung fallen, daß jene, wenn sie einmal den Gnadenstand durch die Sünde verloren haben, zugleich auch dem Fallstrick der Verzweiflung anheimfallen. Deshalb tadelt der Herr durch den Propheten nicht so fast die in Übereilung begangenen Fehler, als vielmehr die geflissentlichen Sünden, wenn er sagt: „Daß nicht etwa wie Feuer ausgehe mein Zorn und brenne und niemand sei, der lösche um der Bosheit eurer Gedanken willen.“5 Darum spricht er ferner in seinem Zorne: „Ich werde heimsuchen an euch die Frucht eurer Anschläge.“6 Wenn sich also die mit Überlegung begangenen Sünden von andern Sünden unterscheiden, so hat der Herr nicht so fast die sündhaften Werke an sich als vielmehr die sündhafte Überlegung im Auge. Denn bei Werken sündigt man oft durch Schwachheit, oft durch Nachlässigkeit, bei der sündhaften Überlegung aber immer durch die boshafte Absicht. Dagegen heißt es beim Propheten bei der Schilderung des glückseligen Mannes: „Er sitzt nicht auf dem Stuhl der Pestilenz.“7 Man gebraucht den Ausdruck: „auf dem Stuhle sitzen“ vom Richter oder von einem Vorsitzenden. „Auf dem Stuhl der Pestilenz sitzen“ heißt also, das Böse mit Vorbedacht begehen, mit der Vernunft es erkennen und es mit freier Überlegung vollbringen. Den Vorsitz in einer gottlosen Ratsversammlung führt, wer in der Sünde so sehr dem Übermut frönt, daß er das Böse sogar planmäßig zu vollführen sucht. Und wie diejenigen, welche die Ehre genießen, auf solchem Stuhle zu sitzen, einen Vorrang vor dem anwesenden Publikum besitzen, so übertreffen die planmäßig angelegten Sünden die Vergehungen derer, die in Übereilung gesündigt haben. Die sich also sogar mit Überlegung in die Fesseln der Sünde begeben, muß man ermahnen, daraus zu schließen, welche Strafe sie einst empfangen werden, da sie jetzt nicht nur die Genossen der Bösen, sondern ihre Vorsitzenden sind.