XXXV. Kapitel: Wie man diejenigen ermahnen muß, die das Böse heimlich, das Gute aber öffentlich tun, und wie diejenigen, die es umgekehrt machen
Anders muß man diejenigen ermahnen, die das Böse heimlich, das Gute aber öffentlich tun, und anders diejenigen, die ihre guten Werke geheim halten, aber doch durch gewisse Handlungen eine schlimme Meinung von sich zulassen. Denjenigen, welche das Böse heimlich, das Gute aber öffentlich tun, muß man zu erwägen geben, wie schnell die Urteile der Menschen vergehen, wie unveränderlich aber die Urteile Gottes bleiben. Sie sollen die Augen ihrer Seele auf das Ende aller Dinge richten, weil menschliche Lobeserhebung vergänglich ist, das göttliche Urteil aber auch das Verborgene berücksichtigt und über die ewige Vergeltung entscheidet. Wenn sie ihr Böses dem göttlichen Gerichte, ihr Gutes aber den Augen der Menschen unterwerfen, so bleibt das Gute, das sie öffentlich tun, ohne Zeugen, nicht aber entbehrt des ewigen Zeugen, was sie im geheimen sündigen. Indem sie also ihre Sünden vor den Menschen verbergen, ihre Tugenden aber zur Schau tragen, machen sie gerade durch das Verbergen ihre Straffälligkeit offenbar und verbergen, indem sie es zur Schau stellen, das, wofür sie hätten belohnt werden können. Deshalb heißt sie die ewige Wahrheit mit Recht übertünchte Gräber, die von außen schön, innen aber voll Totengebein sind; denn im Innern verbergen sie ihre bösen Laster, den Augen der Menschen aber schmeicheln sie dadurch, daß sie ihnen einige Werke zeigen, die nur von außen die Farbe der Gerechtigkeit an sich tragen. Man muß ihnen also sagen, sie sollen das Gute, das sie tun, nicht gering achten, sondern eines höheren Verdienstes für wert halten. Denn wenn sie glauben, daß zu deren Belohnung Menschenlob hinreicht, so unterschätzen sie sehr ihre S. 255 guten Werke. Sucht man nämlich für ein gutes Werk vergängliches Lob, so wird eine Sache, die ewigen Lohn verdienen würde, um geringen Preis verkauft. Von diesem Preis gilt, was die ewige Wahrheit sagt: „Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn schon empfangen.“1 Wenn sie also im geheimen böse sind, während sie öffentlich durch gute Werke als Muster gelten wollen, so sollen sie erwägen, daß sie das als nachahmenswert hinstellen, wovon sie eigentlich nichts wissen wollen, als begehrenswert ausrufen, was sie hassen, für andere endlich leben und für sich selbst sterben.
Diejenigen hingegen, welche das Gute heimlich tun, aber doch durch gewisse Handlungen eine schlimme Meinung von sich zulassen, muß man ermahnen, nicht andere durch das Ärgernis eines Übeln Rufes zu töten, während sie ihr eigenes Leben durch Tugend und gute Werke pflegen, nicht sich selbst mehr als die Nebenmenschen zu lieben und nicht, während sie selbst guten Wein trinken, den auf sie schauenden Seelen todbringendes Gift darreichen. Auf der einen Seite tragen sie zum geistigen Leben der Mitmenschen wenig bei, auf der andern Seite schaden sie ihnen viel, wenn sie das Gute heimlich tun, durch gewisse Handlungen aber Böses als Beispiel aussäen. Denn wer sich schon damit begnügt, daß er die Begierde nach Lob überwunden hat, der begeht durch das Verbergen der Tugenden einen Betrug an der Pflicht, den Nächsten zu erbauen; er hat gleichsam ausgesät und reißt die keimende Saat wieder aus, weil er ein nachahmungswürdiges Werk nicht zu Tage treten läßt. Darum sagt die ewige Wahrheit im Evangelium: „Sie sollen euere guten Werke sehen und eueren Vater preisen, der im Himmel ist.“2 Dort steht auch jener Ausspruch, der etwas ganz anderes zu befehlen scheint: „Habet acht, daß ihr euere Gerechtigkeit nicht übet vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden.“3 Was heißt das: Wir sollen unsere guten Werke S. 256 so tun, daß sie nicht gesehen werden, und doch wird uns wieder befohlen, sie sehen zu lassen? Heißt das nicht: Wir sollen unsere Werke so verbergen, daß wir nicht selbst dafür Lob erhalten, sie aber so sehen lassen, daß dadurch die Ehre des himmlischen Vaters vermehrt wird? Denn da uns der Herr verbietet, unsere Gerechtigkeit vor den Menschen zu üben, fügt er bei: „um von ihnen gesehen zu werden“. Wenn er uns hingegen befiehlt, unsere guten Werke vor den Menschen sehen zu lassen, so setzt er hinzu: „damit sie eueren Vater preisen, der im Himmel ist“. Wie man sie also zeigen und wie man sie nicht zeigen dürfe, zeigt der Schluß der Stelle. Das Herz dessen, der die Handlung vollbringt, soll nicht verlangen, daß das Werk um seinetwillen gesehen werde; aber wo es sich um die Ehre des himmlischen Vaters handelt, soll er es nicht geheimhalten. Aus diesem Grunde kann es oft vorkommen, daß ein gutes Werk geheim ist, obwohl es öffentlich geschieht, hingegen öffentlich, obwohl es im Verborgenen geschieht. Denn wer bei einem öffentlichen guten Werke nicht seine Ehre, sondern die des himmlischen Vaters sucht, der hat sein Werk im Verborgenen getan, weil er den allein zum Zeugen hat, dem zu gefallen er sich bemühte. Und wer bei einem geheimen guten Werke doch gesehen und gelobt zu werden wünscht, der hat es vor den Menschen getan, obwohl es vielleicht niemand sah. Denn so viele Zeugen hat er bei seinem guten Werke für sich, als er in seinem Herzen Lobsprüche von den Menschen dafür begehrte. Wenn man aber die üble Meinung nicht, soweit es ohne Sünde geschehen kann, bei jenen, die einen sehen, zu verhüten sucht, so bietet man allen, die einen sehen und dabei an etwas Böses glauben, etwas Sündhaftes dar. So kommt es, daß diejenigen, die sich aus Gleichgültigkeit in üblen Ruf bringen, zwar selbst nichts Böses tun, aber doch vielfach in jenen sündigen, die sie zur Nachahmung veranlassen. Darum sagt Paulus zu denen, die zwar ohne Befleckung unreine Speisen ver- S. 257 zehrten, aber den Unvollkommenen dadurch Ärgernis gaben: „Sehet zu, daß diese euere Freiheit nicht etwa den Schwachen zum Anstoß werde!“4 Und ferner: „So wird durch deine Erkenntnis der schwache Bruder verlorengehen, um dessentwillen Christus gestorben ist. Wenn ihr euch aber so gegen die Brüder versündigt und ihr schwaches Gewissen verletzt, sündigt ihr gegen Christus.“5 Darum sprach Moses: „Du sollst einem Tauben nicht fluchen“ und fügte bei: „und einem Blinden nicht einen Anstoß in den Weg legen !“6 Man flucht einem Tauben, wenn man einem Abwesenden, der es nicht hört, etwas nachredet; und man legt einem Blinden einen Anstoß in den Weg, wenn man zwar etwas Erlaubtes tut, aber dadurch denen einen Anlaß zum Ärgernis gibt, die zur Unterscheidung nicht die nötige Einsicht besitzen.