XXXVI. Kapitel: Wie man eine für viele Zuhörer bestimmte Rede einrichten soll, um die Tugenden der Einzelnen zu fördern, die entgegengesetzten Fehler aber nicht größer zu machen
Das sind die einzelnen Punkte, die der Seelsorger bei den verschiedenen Ermahnungen beachten soll, um sorgsam für die verschiedenen Wunden das passende Heilmittel bereit zu haben. Aber wenn es schon große Sorgfalt kostet, bei der Ermahnung einzelner Menschen ihren jeweiligen Bedürfnissen gerecht zu werden, wenn es schon sehr mühsam ist, jeden mit der nötigen Klugheit über seinen eigenen Seelenzustand zu belehren, so ist es noch viel schwieriger, unzählige Zuhörer, die an verschiedenen Leidenschaften kranken, zu gleicher Zeit in ein und derselben Ermahnung zu unterrichten. Da muß man seine Rede mit so großer Kunst einrichten, daß man trotz der Verschiedenheit der Fehler der Zuhörer für jeden das Richtige findet, ohne sich in Widersprüche S. 258 zu verwickeln. Sie muß gleichsam zwischen den Leidenschaften geraden Wegs hindurchschreiten, aber wie ein zweischneidiges Schwert in die Geschwüre bald auf dieser, bald auf jener Seite einschneiden und so den Stolzen die Demut predigen, daß die Kleinmütigen dadurch nicht noch furchtsamer werden. Den Kleinmütigen muß so Selbstbewußtsein beigebracht werden, daß die Ungebundenheit bei den Stolzen nicht zunimmt; den Trägen und Lauen muß so der Eifer im Guten gepredigt werden, daß die Ruhelosen in ihrer maßlosen und willkürlichen Geschäftigkeit nicht noch bestärkt werden; den Ruhelosen muß man so Maß und Ziel auferlegen, daß die Trägen dadurch nicht in ihrer Lauigkeit beruhigt werden. Den Ungeduldigen muß so der Zorn genommen werden, daß die Lässigen und Nachsichtigen dadurch nicht noch nachlässiger werden; die Nachsichtigen müssen so zum Eifer entflammt werden, daß die Zornmütigen nicht noch heftiger werden. Die Geizigen müssen so zur Freigebigkeit angehalten werden, daß die Verschwenderischen ihrer Neigung nicht noch mehr die Zügel schießen lassen; den Verschwendern muß so Sparsamkeit gepredigt werden, daß die Geizigen nicht noch ängstlicher über ihre vergänglichen Schätze wachen. Den Unenthaltsamen gegenüber muß man so die Ehe loben, daß die Enthaltsamen keine Neigung zur Wollust bekommen, den Enthaltsamen so die leibliche Jungfräulichkeit rühmen, daß bei den Verheirateten hierdurch keine Verachtung gegen die leibliche Fortpflanzung entsteht. So muß man die Tugenden predigen, daß nicht nebenbei die Laster gefördert werden; so die höchsten Tugenden preisen, daß man nicht über dem Geringen verzweifelt; so das Geringe pflegen, daß man es nicht für hinreichend hält und deshalb das Streben nach Vollkommenheit unterläßt. S. 259