XXXVIII. Kapitel: Bisweilen muß man kleine Fehler übersehen, um große entfernen zu können
Weil nun bei einer zweifachen Erkrankung meistens das eine Übel geringere, das andere vielleicht größere Gefahr in sich birgt, so hilft man mit Recht schnell gegen jenes Übel, welches den baldigen Tod herbeiführen könnte. Wenn aber diesem seine todbringende Gefahr nicht genommen werden kann, ohne daß zugleich das andere gesteigert wird, so muß es auch der Prediger mit kunstvoller Abwägung geschehen lassen, daß ein Übel durch seine Ermahnung zunimmt, um den nahen Tod abzuhalten, den ein anderes zu bringen droht. Wenn er dies tut, steigert er eigentlich nicht die Krankheit, sondern er rettet seinem Kranken durch die Arznei das Leben und wartet für die völlige Heilung eine günstigere Zeit ab. Oft wird z. B. jemand, der sich im Genuß von Speise und Trank gar kein Maß auferlegt, von übermächtiger Wollust versucht; erschreckt über diese Versuchung bemüht er sich, das Fleisch durch Enthaltsamkeit von Speis und Trank zu bezähmen. Dabei nun kommt die Versuchung zu eitler Gefallsucht über ihn. Hier wäre es unmöglich, S. 261 den einen Fehler auszurotten, ohne daß der andere Nahrung bekäme. Ist nun nicht jenes Übet zuerst zu bekämpfen, das am gefährlichsten ist? Man muß es1 dulden, daß durch die Tugend der Enthaltsamkeit vorläufig der Hochmut wächst und so der Kranke am Leben bleibt, damit nicht Unmäßigkeit und Wollust ihm den Tod bringen. Als darum Paulus sah, daß sein schwacher Zuhörer entweder noch Böses tun oder sich am Menschenlob als Lohn seines Rechttuns freuen wollte, sagte er: „Willst du ohne Furcht sein vor der Gewalt, so tue das Gute, und du wirst von ihr Lob erhalten.“2 Denn man darf das Gute nicht deshalb tun, um keine irdische Macht mehr fürchten zu müssen oder um irdisches Lob zu erlangen. Da er aber sah, daß ein schwaches Gemüt sich nicht zu solcher Kraft erheben könne, um zugleich die Sünde und das Lob zu fliehen, ließ der erhabene Prediger in seiner Mahnung etwas zu, um etwas anderes dafür nehmen zu können. Kleines ließ er geschehen, um Arges aufhören zu machen. Weil sich der Geist nicht so hoch erschwingt, alles miteinander aufzugeben, so läßt er ihn ruhig in einem seiner Fehler, um ihn ohne Schwierigkeit einem andern zu entreißen.