Einleitung
S. 59 Im XXX. Buch der Moralia, Kap. III Nr. 9, 1 behandelt Gregor die Stelle Jobs: „Wer legte in des Menschen Inneres Weisheit, oder wer verlieh dem Hahne Ahnungskraft?“ 2 Die Erklärung dieser Stelle führt ihn zu der Frage, wie der Prediger seines Amtes walten soll. „Der Hahn erhält die Fähigkeit, die Stunde der Nacht zu unterscheiden, damit er darnach den Weckruf erschallen lassen kann. So muß der Prediger zuerst das Leben seiner Zuhörer kennen lernen, dann erst kann er für jeden erbaulich und nützlich reden. Nicht jede Ermahnung paßt für alle; ein leises Zischen besänftigt das Pferd, reizt aber junge Hunde. Das Wort des Predigers muß sich also nach der Eigenschaft seiner Zuhörer richten, muß die einzelnen ins Auge fassen und soll doch für alle miteinander erbaulich sein. Denn was sind die angespannt lauschenden Seelen der Zuhörer anders als die gespannten Saiten der Zither? Der Spieler muß sie ganz verschieden berühren, damit sie eine schöne Melodie geben. Mit einem Plektrum berührt er die Saiten, aber nicht alle zugleich. So muß auch der Prediger, damit er alle in der Liebe erbaue, aus einer Lehre heraus, aber nicht durch eine und dieselbe Mahnung die Herzen der Zuhörer rühren. Denn anders sind Männer, anders Frauen zu belehren, anders die Jugend, anders das Alter.“ Gregor zählt dann in einer langen Reihe von Antithesen, genau wie später in der Pastoralregel, III. Buch, 1. Kap., die verschiedenen Exhortationsarten auf und fährt weiter: „Wir sollten uns eigentlich über die einzelnen Ermahnungsarten eingehender verbreiten; doch sehen wir, weil wir zu ausführlich werden müßten, davon ab. Mit Gottes Hilfe möchte ich das in S. 60 einem anderen Buche tun, wenn uns unter den vielen Arbeiten, die das Leben uns auferlegt, noch etwas Zeit dazu übrig bleibt.“ Was hier Gregor vorschwebte, kam im Jahre 591 zur Ausführung, als er das Buch „Pastoralregel“, wie er es selbst nennt, 3 verfaßte. Der allernächste Anlaß dazu war eine Frage des Bischofs Johannes von Ravenna, warum er sich dem Hirtenamte habe entziehen wollen. Gregor antwortet durch dieses Buch, in dem er sich ausführlich über das schwere Hirtenamt ausspricht. So verdanken wir dieses „goldene Buch“ 4 demselben Anlaß wie zwei andere wichtige Pastoralschriften des Altertums. Gregor von Nazianz verfaßte nämlich bald nach 302 seine Verteidigungsschrift „Wegen der Flucht nach dem Pontus“; und Johannes Chrysostomus schrieb zwischen 381—386 seine sechs Bücher „Über das Priestertum“, um sich seinem Freunde Basilius gegenüber zu rechtfertigen, weil er sich nicht mit ihm weihen ließ.
Einteilung und Überschriften der Kapitel des Buches rühren von Gregor selbst her. Der 1. Teil behandelt die Vorbedingungen zum Priestertum, der 2. die Anforderungen an das Leben des Seelsorgers, der 3. seine Lehrweise, der 4. die Mahnung, der eigenen Schwachheit eingedenk zu sein. Der letzte Teil ist unverhältnismäßig kurz und erweckt den Eindruck, als ob der Verfasser rasch hätte abbrechen müssen. Gregor bespricht besonders im III. Buche Tugenden und Fehler und deckt die verborgensten Regungen der Seele auf. Diese Kapitel bieten in ihrem psychologischen Scharfblick dem Prediger eine reiche Ausbeute für Standeslehren.
Das Buch stand ehedem hoch in Ehren. Die Synoden von Mainz, Reims und Chalon-sur-Saône machten den Bischöfen sein Studium zur Pflicht, und bei der Konsekration wurde es ihnen mit den Canones überreicht. Es bedeutete für den Weltklerus das, was die Regula S. Benedicti für die Orden war. Wie die Dialoge und die Moralbücher wurde es überallhin verbreitet. Die Staatsbibliothek in München verwahrt z. B. unter C. L. S. 61 3767 eine Handschrift der Regula Pastoralis des IX. Jahrhunderts aus der ehemaligen Augsburger Dombibliothek; sie reicht nach Steichele 5 bis in die Zeit des hl. Ulrich zurück. Die Beliebtheit des Werkchens beweisen auch die vielen Wiegendrucke, die Hain in seinem Repert. Bibliogr. aufzählt, nämlich einen Kölner, einen Mainzer, drei Pariser (?, 1480, 1482), die Drucke von Venedig (1492), Straßburg (1496), Basel (1496) und Paris (1498 und 1499). Von späteren Drucken wurden dem Übersetzer bekannt ein Pariser (1508), einer, der in zierlichem Einbande als Xenium der großen Marianischen Kongregation an der Universität Dillingen dort im Jahre 1780 ausgegeben wurde; sodann eine Innsbrucker Ausgabe von 1845, die Ausgabe von E. W. Westhoff, Münster 1860, die von H. Hurter in SS. Patrum opusc. sel. 20, Innsbruck 1872, jene von Micheletti A. M. de, Tournay 1904, und von Turchi Nicolao, in Bibliotheca SS. Patrum et Scriptorum etc. Ser. VII, Scriptores Medii Aevi, Rom 1908, Vol. I, pars 2. Auch der gelehrte Abt Cuthbert Butler schenkte uns eine gediegene Ausgabe.
Kaiser Moriz ließ das Buch noch zu Lebzeiten Gregors durch Bischof Anastasius von Antiochien ins Griechische übersetzen; diese Übersetzung ist leider schon im 9. Jahrhundert der Vergessenheit anheimgefallen. Eine deutsche Übersetzung erschien 1788 in Augsburg unter dem Titel: Gregor der Große, Pastoralunterricht. Übersetzungen lieferten ferner M. Feyerabend, München 1826, J. Fellner, Coblenz 1827, Carl Haas, Tübingen 1862, Theodor Kranzfelder, Bibliothek der Kirchenväter, Kempten 1873, und Abt Benedikt Sauter, Freiburg i. Br. 1904. 1928 erschien eine französische Übersetzung von J. Boutet in Maredsous.
Es war bei Fertigung der vorliegenden Übersetzung notwendig, das Original möglichst treu wiederzugeben, dabei aber doch einen fließenden, leicht verständlichen Text zu bieten. Theodor Kranzfelder hat wie die Dialoge und eine Briefauswahl so auch die Pastoralregel, deren Ausdrucksweise und Satzbildungen mitunter Schwierig- S. 62 keiten bereiten, mit großem Geschick verdeutscht. Auf ihr hat die gegenwärtige Übersetzung aufgebaut.
Erwähnt seien noch zwei Dissertationen:
Dewitz Albert, Untersuchungen über Aelfred d. Gr. westsächsische Übersetzung der Cura Pastoralis Gregors und ihr Verhältnis zum Original. Bunzlau 1889.
Wack Gustav, Über das Verhältnis von König Aelfreds Übersetzung der Cura Pastoralis zum Original. Greifswald 1889.
Herrn Dr. P. Johannes E. Stöckerl O. F. M. danke ich aufrichtigst für die gütige Anfertigung des Registers.
Augsburg, am Feste des hl. Bischofs Ulrich 1933.
J. Funk.