Einleitung des Übersetzers
S. 441 „Eines der kostbarsten Kleinodien unter den christlichen Heiligenleben“ wurde von sachkundigster Seite 1 die Vita sanctae Melaniae genannt. Dies Urteil unterschreiben alle Kenner.
Seit wenig Jahren erst haben wir die lang vermißten genauen und authentischen Nachrichten von dieser hoch edlen Heiligengestalt des christlichen Altertumes. Wohl besaßen wir die knappen Notizen des Palladius, der die Heilige selber kennen gelernt und ihr in seinem „Leben der heiligen Väter“ ein bescheidenes Denkmal gesetzt hatte, da sie noch hienieden war. Der Byzantiner Simeon Logotheta, genannt Metaphrastes, hat im zehnten Jahrhundert für sein Menologion ein Originalleben überarbeitet; doch eben diese zweifellos wertvollste Vita schien verloren. Da fand im Jahre 1884 der päpstliche Nuntius am Madrider Hofe Rampolla del Tindaro unter den Manuskripten des Eskurial ein lateinisches Leben Melanias, das er eigenhändig abschrieb. Die Berufung des Kirchenfürsten als Kardinalstaatssekretär Leos XIII. machte natürlich eine Publikation unmöglich. Inzwischen veröffentlichten die Bollandisten die lateinische Vita nach zwei unvollständigen Handschriften der Bibliotheken zu Paris und Chartres. 2 Im Jahre 1900 fanden sie sogar in der Biblioteca Barberini zu Rom den griechischen Text, der augenscheinlich dem Metaphrasten vorlag. 3 Nun entdeckte man auch andere lateinische Handschriften (in Valenciennes, Brüssel. Douai, Monte Cassino, Rom), die aber den Text nur entstellt und mangelhaft enthielten. Nach dem Tode Leos XIII. bot sich endlich dem gelehrten Kardinal die nötige Muße, seinen Fund von ehemals, den einzig vollständigen lateinischen Text, herauszugeben. Im Jahre 1905 S. 442 erschien der mächtige Folioband „Sancta Melania giuniore, senatrice romana“ (Roma, tipografia vaticana). Das Werk enthält die beiden Formen der Vita, d. h. den lateinischen Text und auch den griechischen, und als überaus wertvolle Zugaben eine Fülle reichhaltigster Kommentare zu den kostbaren Notizen, die man eingestreut findet.
Seltsam ist das gegenseitige Verhältnis beider Textgestalten. Nur soviel kann mit Sicherheit erschlossen werden: beide gehen auf gemeinsame Vorlage zurück. Doch entscheiden läßt sich die Frage nach dieser kaum bis zur Auffindung neuer Handschriften. Rampolla selbst (1. c. p. LXIlI ss) und Diekamp 4 halten dafür, das Original sei lateinisch gewesen; ein griechisches dagegen nehmen an d'Ales, Butler 5 und Weyman. 6 Wir haben gleichfalls den griechischen Text bevorzugt, müssen jedoch verzichten, in diesem Rahmen auf kritischem Wege Rechenschaft abzulegen. Ausschlaggebend war uns die Tatsache, daß die griechische Fassung bei aller wesentlichen Übereinstimmung mit der lateinischen eine viel geschicktere Hand verrät und anziehender zu lesen ist. Diese Wahl hindert uns aber nicht, hie und da ein wenig Sondergut in den Anmerkungen zu geben.
Wer hat nun dies Leben der heiligen Melania geschrieben? Vor allem war es ein Zeitgenosse, der oft und oft als Augenzeuge berichtet. Das gibt dem Büchlein so feinen Reiz und Duft. Wie die beiden Texte selber ausweisen, war es ein Priester, den sich die Heilige zum Nachfolger in Verwaltung ihrer Klöster zu Jerusalem ersah. Nun bezeichnet Cyrillus von Skythopolis 7 ausdrücklich als Nachfolger Melanias ((xxx)) einen Gerontius. Das syrisch S. 443 aufgefundene Leben des Monophysiten Petrus des Iberers 8 enthält die Notiz, daß Gerontius in der heiligen Stadt geboren war, von Melania den Lebensunterhalt bekam, trefflich erzogen und dem Mönch- und Priesterstande zugeführt wurde. Weiterhin wird sein ausgezeichneter Wandel gerühmt; er sei so fromm gewesen, daß er „viele Male an einem Tage der Woche drei gottesdienstliche Versammlungen abhielt, besonders am heiligen Sonntag“, eine auf dem Ölberg, die zweite im Männerkloster, die dritte im Frauenkloster; dabei zerfloß er in Tränen der Andacht. Mögen die Angaben des unbekannten Autors im Interesse der Monophysitenpartei gefärbt sein, dennoch offenbart sich Gerontius in seiner eigenen Schrift als Frommen, der Heiligen treu ergebenen Charakter. Einfach wie sein ganzes Wesen ist auch die Schreibart des Mannes. Er empfindet wohl die großen Gegensätze nicht, die ein aufmerksames Auge wiederholt entdecken wird - Gegensätze auf allen Gebieten: Roma, die stolze Weltbeherrscherin, ist noch am Leben; aber die Füße der Barbaren, die sie begraben werden, stehen vor der Türe. Wir sehen absterbendes Heidentum und aufblühendes Christentum, Heiden und Christen im Schoße der gleichen Familie. Hier ein Adel im Vollbesitze von Reichtum und Rechten; dort Sklavenschwärme, die nur Marktware sind und Arbeitstiere! Hier Geiz und Genußsucht; dort opfermutige Weltentsagung! Wie seltsam steht Melania neben ihren meisten Standesgenossen da! Was die Ahnen von Geschlecht zu Geschlecht an Schätzen aufhäuften, streut sie mit vollen Händen aus im Dienste christlicher Nächstenliebe. Erst wohnt sie als reichste Dame der Weltstadt im gleißenden Marmorpalaste, dessen Kaufpreis sogar ein Mitglied des Kaiserhauses nicht erlegen kann; zuletzt aber trägt man den von alters hochberühmten Namen in die Armenliste der Gemeinde zu Jerusalem. Nur selten im Laufe der Kirchengeschichte hat jemand so buchstäblich, gewiß aber niemand in solchem Umfange das Wort des Herrn erfüllt: „Willst du vollkommen sein, geh' hin und verkauf' alles, was du besitzest, S. 444 und gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben und dann komm' und folge mir nach!“ 9 Das alles klingt bei Gerontius so wahr und klar und selbstverständlich.
Auf die erste deutsche Übersetzung der Historia Lausiaca des Palladius folgt hier die erste deutsche Übersetzung der Vita sanctae Melaniae des Gerontius. Beide Büchlein entstanden fast um dieselbe Zeit, sind aber grundverschieden. Was der leichtgläubige Bischof von Helenopolis zusammenträgt, ist zum Teil im höchsten Grade legendarisch, ja mitunter märchenhaft. Was Gerontius von der edlen Römerin berichtet, ist alles echt und zuverlässig.
Zum Schluß obliegt mir noch die angenehme Pflicht, meinem lieben Freunde, Herrn gepr. Lehramtskandidaten Georg Beck, von Herzen zu danken für die Sorgfalt, womit er mir Original und Übersetzung der beiden Schriften nochmals aufs genaueste vergleichen und die Druckbogen korrigieren half.
München, im Juni 1912.
Stephan Krottenthaler
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Analecta Ballondiana XXV (1906), 450 ↩
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Anal. Bolland. VIII (1899) 16/63. ↩
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Anal. Bolland. XXII (1903) 7/49 ↩
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Theol. Revue V (1906), 242/5. ↩
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Journal of theological studies VII (1906), 632. ↩
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Histor. Jahrbuch der Görresgesellschaft XIX (1908), 588/90. ↩
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Cyrillus Scythopol. Vita s. Euthymii (Cotelier, ecclesiae graecae monumenta. tom. IV. Paris 1692) p. 56, 59, 67. Ergänzt werden diese Angaben z. T. durch die gleichnamige Ueberarbeitung des Metaphrasten. (Migne P. G. 114, 595 ss.) n. 74 (75, 76. 108, 123, 124). ↩
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Raabe, Petrus der Iberer. (1895) S. 35 f. ↩
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Mt 19,21. ↩