Zwölfter Vortrag: Über die Stelle: „Vater unser, der du bist im Himmel...“ bis: „sondern erlöse uns von dem Übel.“ Mt 6,9-13
Ihr habt, geliebteste Brüder, empfangen die Kunde des Glaubens1 , vernehmt nun auch den Wortlaut des Gebetes des Herrn. Christus lehrte uns ein kurzes Gebet, weil er schnell verleihen will, was wir von ihm erbitten. Oder was wird er den ihn Bittenden nicht geben, der S. 76sich gab denen, die ihn nicht darum bitten?2 . Oder zögert er etwa zu antworten, der er doch den Wünschen der Bittenden zuvorkommt dadurch, dass er ihnen die Bitte vorsagt? Was ihr heute hören werdet; die Engel staunen, der Himmel wundert sich, es fürchtet sich die Erde, das Fleisch trägt es nicht, das Ohr faßt es nicht, der Geist reicht nicht hinan, kein Geschöpf kann es ertragen. Und ich, ich wage es nicht auszusprechen, aber schweigen kann ich auch nicht. Mag Gott geben, dass ihr es hören und ich es aussprechen kann! Wovor soll man denn mehr zittern: dass Gott sich der Erde schenkt oder dass er uns den Himmel schenkt? dass er selbst eintritt in die Gemeinschaft unseres Fleisches oder dass er uns eintreten läßt in die Gemeinschaft der Gottheit? dass er selbst den Tod auf sich nimmt oder dass er uns von dem Tode errettet? dass er selbst zur Knechtschaft geboren wird oder dass er uns zu Freien gebiert? dass er unsere Armut annimmt oder dass er uns zu seinen Erben macht, zu seinen einzigen Miterben? Gewiß: es ist furchtbarer, dass die Erde zum Himmel umgewandelt wird, dass der Mensch durch die Gottheit verwandelt wird3 , dass, die das Los der Knechtschaft tragen, erlangen die Rechte der Herrschaft. Aber wenn dies auch furchterregend ist, so laßt uns dennoch, weil hier nicht der Lehrende, sondern der Befehlende die Ursache [unserer Predigt] ist, hinzutreten, meine lieben Kindlein, dahin, wohin uns die Liebe ruft, die Liebe zieht, die Liebe einladet. Unser Inneres möge erkennen den Vater-Gott, unsere Stimme möge ihn rufen, unsere Zunge ihn nennen, unser Geist ihn bekennen, und alles was in uns ist, möge sich der Gnade überlassen, nicht der Furcht! Denn er, der den Richter zum Vater machte, wollte geliebt und nicht gefürchtet werden.
„Vater unser, der du bist im Himmel.“4 . Wenn du so sprichst, sollst du es nicht so auffassen, als sei er S. 77nicht auf Erden, sollst du es nicht so ansehen, als sei er in einem Orte eingeschlossen, er, der alles umschließt; sondern verstehe das so, dass dein Geschlecht dir ist vom Himmel her5 , da dein Vater ja im Himmel ist. Und handle so, dass du durch ein heiliges Leben dem heiligen Vater doch würdig zeigst! Der erweist sich als ein Kind Gottes, der nicht befleckt6 wird von menschlichen Lastern, der vielmehr hervorleuchtet durch Tugenden. „Geheiligt werde dein Name.“7 . Wessen Geschlechtes wir sind, dessen Namen tragen wir. Das ist also der Inhalt unserer Bitte, dass sei Name, der aus sich und durch sich heilig ist, in uns geheiligt werde, Der Name Gottes wird je entweder durch unsere Handlungen geehrt oder durch unsere Taten geschändet. Höre, was der Apostel sagt: „Der Name Gottes wird durch euch geschändet unter den Heiden“8 . „Zu uns komme dein Reich.“9 . Wann besaß denn Gott kein Reich? Wir bitten also darum, dass, der für sich immer ein Reich besaß. auch nun herrsche in uns, damit wir auch in ihm herrschen können. Es herrschte der Teufel, es herrschte die Sünde, es herrschte der Tod und lange war in Gefangenschaft die sterbliche Menschheit. Wir bitten also, dass unter der Herrschaft Gottes der Teufel zugrunde gehe10 , die Sünde vernichtet werde, der Tod sterbe, die Gefangenschaft selbst gefangen werde, damit wir als Freie herrschen zum ewigen Leben.
„Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden.“11 . Das ist das Reich Gottes, wenn im Himmel sowohl als auch auf Erden nur besteht der Wille Gottes, S. 78wenn in allen nur der eine12 Gott ist, Gott lebt, Gott handelt, Gott herrscht, Gott ganz ist nach dem Ausspruch des Apostels: „Gott sei alles in allen“13 . „Unser tägliches Brot gib uns heute.“14 Der sich uns als Vater schenkte, der uns sich als seine Söhne annahm, der uns machte zu seinen15 Erben, der uns erhob durch [seinen]16 Namen, der uns beschenkte mit seiner Ehre und mit seinem Reiche, der fügt selbst noch hinzu, dass wir um das tägliche Brot bitten sollen. Mitten im Reiche Gottes, inmitten der Wohltaten Gottes wonach verlangt denn noch der Mensch in seiner Armut? Und der so gute, so liebe, so freigebige Vater verleiht er denn das Brot seinen Kindern nur, wenn sie ihn darum bitten? Wo bleibt denn das Wort: „Ihr sollt nicht bekümmert sein, was ihr essen oder was ihr trinken oder womit ihr euch bekleiden werdet“?17 . Um das zu bitten fordert er uns auf, woran zu denken er uns verbietet? Was sollen wir davon halten?18 . Der himmlische Vater mahnt uns, dass wir als Söhne des Himmels um ein himmlisches Brot bitten sollen. Er selbst hat gesagt:„Ich in das Brot, das vom Himmel gekommen ist“19 . Er ist das Brot, das gesät wurde in [dem Schoße] der Jungfrau, durchsäuert wurde im Fleische, zubereitet im Leiden, gekocht20 wurde im Ofen des Grabes, gewürzt21 in der Kirche, geopfert auf den Altären dies Brot teilt er als himmlisches Brot täglich den Gläubigen aus.
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern,“22 . Wenn du, Mensch, ohne S. 79Sünde nicht sein kannst, aber immer doch willst, dass dir die ganze Schuld nachgelassen werde, so vergib selbst allezeit! Inwieweit du willst, dass dir Verzeihung zuteil werde, insoweit gib Verzeihung.23 Wie oft du willst, dass dir verziehen werde, so oft gib die Verzeihung! Und so weit du willst, dass dir alles verziehen werde, verzeihe du alles! Mensch, lerne einsehen, dass du dadurch, dass du andern verzeihst, dir selbst Verzeihung gegeben hast! „Und führe uns nicht in Versuchung.“24 . Weil in dieser Zeitlichkeit das Leben selbst eine Versuchung ist „Eine Versuchung“, sagt jener [Weise], „ist des Menschen Leben“25 , bitten wir also, dass er uns nicht unserem Urteil überlasse, sondern dass er uns in allen unseren Handlungen mit väterlicher Liebe umgeben und uns auf unseren Lebenspfaden stärken möge durch seine himmlische Führung! „Sondern erlöse uns von dem Übel.“26 . Von welchem Übel? Von dem Teufel freilich, von dem nichts als Übles stammt. Wir bitten also um unsere Befreiung von dem Übel, weil der das Gute nicht genießen kann, der vom Bösen nicht befreit ist. Wenn diejenigen, die bis jetzt noch nicht [durch die Taufe] wiedergeboren sind, die bis jetzt noch im Schoße verborgen sind, um Brot bitten, um das Reich flehen27 warum entsteht dann die Frage, ob immer der Sohn Gottes geblieben sei in dem geheimnisvollen Schoße Gottes des Vaters? Wenn die Kirche [geistige Kinder] erzeugt, so erkennt das nicht die Vernunft, es ist das ein himmlisches Geheimnis; dass in Gott dem Vater der Sohn Gottes gewesen ist wie soll es nach menschlicher Berechnung geschehen können? Die Gottheit ist doch nicht nach menschlichen Begriffen zu behandeln! Du S. 80hast Gott gehört denke nicht an das Irdische, das Menschliche! Du hast den Vater Christi vernommen glaube das: seiner Natur nach28 . Du hast deinen Vater gehört glaube dies: durch seine Gnade: er besaß ihn immer, damit er sein Sohn sein konnte; dir gab er nun die Kindschaft. So sollst du also den Sohn erkennen, dass du nicht vergissest, dass du der Knecht seiest. So höre: zur Ähnlichkeit mit Christus bist du geführt, damit du immer erkennst, dass du ein Sklave Christi bist.
gehalten nach der Erklärung des Symbolums ↩
Gemeint sind die Heiden ↩
zu verstehen von der Menschwerdung Christi oder von der Erhebung der menschlichen Natur zur Teilnahme an der Seligkeit Gottes. ↩
Mt 6,9 ↩
vgl. Apg 17,28 ↩
obscuratur: „verdunkelt wird“ entsprechend dem folgenden elucescit ↩
Mt 6,9 ↩
Röm 2,24:vgl. Is 52,5;Ez 36,20 ↩
Mt 6,10 ↩
Es ist pereat statt pareat zu lesen ↩
Mt 6,10 ↩
ich lese Deus unus est statt Deus meus est bei Migne ↩
1 Kor 15,28. Bei Paulus ist omnibus aber der Ablativ von omnia! ↩
Mt. 6,11 ↩
secum nos fecit heredes statt rerum... ↩
so fügt Januel ein ↩
Mt 6,31 ↩
Ich lese mit Januel quid tenemus? statt quatenus. So auch im Anhang bei Migne ↩
Joh 6,51 ↩
statt „gebacken“ ↩
nicht wie falsch übersetzt „verborgen“ ↩
Mt 6,12 ↩
Wie so oft übertreibt Chrysologus hier stark. Durch diese Bitte des Vaterunsers wird nur die Voraussetzung für unsere Verzeihung, nicht aber deren Maß angegeben. ↩
Mt 6,13 ↩
Job 7,1. Die Vulgata liest militia ↩
Mt 6,13 ↩
die Katechumenen, denen vor der Taufe Symbolum und Gebet des Herrn übergeben wurden. ↩
per substantiam ↩
