Fünfzehnter Vortrag: Über dieselbe Stelle.
Alles, was von göttlichen Worten und Taten erzählt wird, ist wunderbar, staunenswert, erregt Furcht bei den Sterblichen; ja selbst die Himmlischen zittern davor. Aber vor nichts staunt mehr der Himmel, entsetzt sich mehr die Erde, fürchtet sich mehr die ganze Schöpfung S. 91als vor dem, was ihr heute aus unseren Worten vernehmen werdet. Der Knecht wagt es, den Herrn Vater zu nennen; der Angeklagte nennt seinen Richter Erzeuger; das menschliche Geschöpf nennt sich mit eigener Zunge Gottes Sohn; wer die Erde selbst verloren hat, glaubt sich nun erhoben zum Erben der Gottheit. Aber wir wagen es, weil es keine Anmaßung ist, es auszusprechen, wo die Macht des Befehlenden vorliegt; denn er selbst wollte uns heute so sprechen lassen, der uns so beten lehrte. Und wie sollte das uns wundernehmen, wenn er die Menschen zu Gottessöhnen erhob, da er sich ja selbst zum Menschensohn dahingab und erniedrigte? Damals ja erhob er die Natur des Fleisches zur göttlichen Natur, als er die Gottheit hinabführte in die menschliche Natur. Damals machte er sich den Menschen zum Erben des Himmels, als er teilnahm an dieser irdischen Welt. Oder welche Liebe, welche Gnade kann der dem Menschen verweigern, der alles, was der Mensch besitzt, selbst die Sünde1 und den Tod auf sich nahm? Oder wie wird er den Menschen in seinem Glücke nicht zum Genossen haben, er, der sich zum Teilnehmer machte an dem Leiden der Menschen? Mensch, kehre zu Gott zurück, der du von Gott so geliebt wirst! Und gib dich ganz dem zur Verherrlichung, der sich zur Schmach dahingab um deinetweillen! Und sie nenne ihn im Vertrauen Vater, den du als deinen Erzeuger wegen seiner großen Liebe erkennst, fühlst und weißt! „Vater unser.“2 . Niemand wundere sich, dass der noch nicht Geborene ihn Vater nennt! Denn für Gott geboren sind schon, die da erst zur Welt kommen sollen; für Gott geschaffen sind, die da erst werden sollen3 . Denn es heißt: „Was wird, ist schon gewesen“4 . Deshalb erkannte auch Johannes im Mutterschoße seinen S. 92Herrn und brachte so die Botschaft [von diesem] seiner Mutter, er, der seines Lebens sich noch nicht bewußt war5 . Daher lesen wir auch, dass Jakob schon kämpfte, ehe er noch geboren war, vorher schon triumphierte, ehe er noch lebte6 . Deshalb gehören schon Gott an, die noch nicht sich selbst angehören, die auserwählt sind vor der Erschaffung der Welt7 .
„Der du bist im Himmel.“8 . Nicht als sei jener nicht auf der Erde, sondern damit du erkennest, dass du seiest ein Sprößling des Himmels; damit du, wenn du ein Kind Gottes, damit du in Handel und Wandel und Tugendstreben deinem erhabenen Vater entsprichst. „Geheiligt werde dein Name.“9 . Weil du von Christus den Namen Christ erhalten hast, bittest du nun, dass das Vorrecht dieses Namens auch in dir geheiligt werde; denn der Name Gottes, der durch sich und für sich heilig ist, wird entweder durch unsere Werke in uns geheiligt oder durch unsere Handlungen unter den Heiden gelästert. „Zukomme uns dein Reich“10 . Er sagt ja selbst: „Das Reich Gottes ist in euch“11 . Wenn es aber in uns ist, warum bitten wir dann, dass es komme? Wir glauben an das Reich, wir erhoffen und erwarten es noch; aber nun bitten wir, dass es auch in Wirklichkeit zu uns komme. Zu uns möge es kommen, nicht aber zu dem, der immer mit seinem Vater zugleich herrscht, zugleich in dem Vater regiert. Zu uns möge es kommen: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, und besitzet das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt“12 . Wir sagen also: „Zukomme uns dein Reich“, damit so herrsche Gott in uns, wie in uns aufhören möge die Herrschaft des Todes und der Sünde. „Es herrschte“, heißt es, „der Tod von Adam bis auf Moses“13 und an einer anderen Stelle: „Nicht soll herrschen die Sünde in eurem sterblichen Leibe“14 . S. 93„Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.“15 . Jetzt geschieht hier auf Erden vieles nach dem Willen des Teufels, nach der Gottlosigkeit der Welt, nach den Gelüsten des Fleisches. Im Himmel aber geschieht nichts außer dem Willen Gottes. Wir bitten also, dass der Teufel vernichtet werde, eine neue Zeit anbreche, unser Leib umgewandelt werde, die Herrschaft des Todes zerstört, die Herrschaft der Sünde vernichtet werde und so im Himmel und auf Erden, in Gott und in den Menschen nur sei der eine und gleiche Wille Gottes. „Unser tägliches Brot gib uns heute.“16 . Nach der Bitte um das Reich [des Himmels] werden wir nun aufgefordert, um irdisches Brot zu bitten, obschon er selbst es uns verbietet, indem er spricht: „Sorget nicht ängstlich für euer Leben, was ihr essen noch was ihr trinken werdet“17 . Aber weil er selbst das Brot ist, das vom Himmel herabgekommen ist18 , bitten und flehen wir, dass wir ihn heute, d. h. in dem gegenwärtigen Leben, von dem Mahl des heiligen Altares zur Kräftigung des Leibes und des Geistes empfangen möchten als das Brot, von dem wir täglich, d. h. immer, in Ewigkeit leben werden. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“19 . Dadurch, dass du, Mensch, so sprichst, hast du dir das Maß der Verzeihung, das Maß der Vergeltung gegeben, da du für dich soviel Verzeihung erflehst von dem Herrn, als du deinem Mitknechte selbst erteilst. Vergib also deinem Bruder, der wider dich fehlt, wenn du willst, dass dir vor Gott auch keine Schuld bleibt wegen deiner Vergehungen; erwirke S. 94dir in deinem Bruder Verzeihung, wenn du willst, dem Strafurteil selbst zu entgehen.
„Und führe uns nicht in Versuchung.“20 . Es steht geschrieben: „Gott versucht niemanden“21 . Aber dieses „Versuchen“ ist so zu verstehen, dass er diejenigen, die hartnäckig den Fallstricken der Versuchungen nacheilen verläßt. So geriet Adam in die Nachstellungen des Versuchers, indem er die Gebote seines Schöpfers übertrat. Woher aber die Versuchungen kommen, und wer der Versucher der Menschen ist, zeigt er durch die folgenden Worte: „Sondern erlöse uns von dem Übel“, d. h. von dem Teufel, der der Urheber und Ursprung alles Übels ist; denn der Teufel war von Natur ein Geschöpf des Himmels; nun ist er, der Geist der Bosheit22 , älter als die Welt, im Schädigen wohl bewandert durch die Erfahrung, äußerst durchtrieben in der Kunst zu verletzten. Darum heißt er nicht so sehr der Böse, sondern das Böse; von ihm ist ja alles, was böse ist. Daher kann auch der Mensch nicht mit seinen eigenen Kräften erlösen23 , weil er gebunden ist an die Fesseln des Fleisches. Darum müssen wir bitten, dass Gott uns erlöse von dem Teufel, er, der Christus der Erde übergab, damit er den Teufel besiege. Es rufe, es schreie also der Mensch zu Gott, er rufe laut: „Erlöse uns von dem Übel“, damit wir von einem so großen Übel erlöst werden allein durch den Sieg Christi. „Vater unser, der du bist im Himmel.“ Den Inhalt für dein Gebet, den Stoff für deine Bitten, die Norm für dein Flehen hat er dir in ganz kurzen Worten gnädig angegeben, er, den du doch anrufen mußt. Denn so sollst du dir erwerben den Geist der Bitten, erfassen das Verständnis des Flehens, annehmen das Maß des Verlangens, damit du durch diese kürzeste Belehrung empfingest S. 95die beste Schulung.24 weil zugleich der König selbst, um dir seine Liebe zu beweisen, das Amt eines Sachwalters übernahm, um dir die Bitten, die er dir erfüllen will, selbst in den Mund zu legen. Jeder Grund, die Bitten aufzuschieben, ist uns so genommen; vielmehr ist uns in solcher Fülle gegeben das Vertrauen, erhört zu werden, weil er, der gebeten wird, sich selbst in diesen Bitten findet. Da kann keine Furcht mehr bestehen, wo der Sohn von dem Vater unter der Fürsprache der Liebe zu erlangen wünscht, was heilig ist.
um sie zu vernichten; vgl. 2 Kor 5,21 u. 1 Petr 2,24 ↩
Mt 6,9 ↩
Deo nata sunt nascitura, futura facta sunt Deo ↩
Eccl 3,15 ↩
Lk 1,41 ↩
Gen 25,22 ↩
vgl. Röm 8,29 ↩
Mt 6,9 ↩
Mt 6,10 ↩
Mt 6,10 ↩
Lk 17,21 ↩
Mt 25,34 ↩
Röm 5,14 ↩
Röm 6,12 ↩
Mt 6,10 ↩
Mt 6,11 ↩
Mt 6,31 ↩
Joh 6,51 ↩
Mt 6,12 ↩
Mt 6,13 ↩
Jak 1,13 ↩
vgl. Eph 6,12 ↩
gegen die Pelagianer, die behaupteten, der Mensch könne auch ohne Christus und seine Gnade sündenlos sein ↩
Dies geschieht schließlich auch deshalb, ↩
