Einundzwanzigster Vortrag: Über die Stelle: „Er trug ihnen ein Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte...“ bis: „[sein Feind] säte Unkraut darüber unter den Weizen und ging davon.“ Mt 13,24-25
S. 120Wenn die Worte und Taten Christi allesamt nur fleischlichem Verständnisse unterlägen1 , so würde mein Verstand erschlaffen, mein Geist würde untätig sein, mein Herz würde ermatten, ja ausgelöscht wäre, was der Mensch besitzt an Kraft und Wärme [des Geistes]. „Er trug ihnen“, heißt es, „ein Gleichnis vor“2 . Wie im Stein das Feuer, so liegt der Funke verborgen im Eisen. Wie aber durch das Zusammenstoßen des Eisens und des Steins das Feuer aufleuchtet, so wird das Dunkel des Wortes aufgehellt durch das Gegenüberstellen von Wort und Sinn. Gewiß, wenn es keine Geheimnisse gäbe, würde es auch keinen Unterschied geben zwischen einem Ungläubigen und einem Gläubigen3 , zwischen einem Gottlosen und einem Gerechten. Der Demütige wäre gleich dem Stolzen, der Träge gleich dem Fleißigen, der Wachende gleich dem Schlafenden. Aber wo die Seele strebt, wo der Geist drängt, wo der Sinn forscht, wo die Liebe hofft, wo der Glaube fordert, wo das Verlangen voranstrebt, da erscheint auch die Frucht für den, der sich abmüht, wie die Strafe für den Trägen, und so die Gerechtigkeit dessen, der vergilt, für beide. Und weil uns mehr erfreut, was wir empfangen, als was wir schon besitzen, mehr das, was wir finden, als das, was [unserem Verständnis] unterworfen ist, so hat Christus seine Lehren in Gleichnissen verborgen, sie eingehüllt S. 121in Bilder, sie bedeckt mit Geheimnissen, sie verdunkelt mit Mysterien.
„Er trug ihnen“,heißt es, „ein Gleichnis vor.“ „Ihnen“, nicht den Seinen, sondern den Fremden; seinen Feinden nämlich, nicht seinen Freunden; denen, die darnach verlangen, ihn zu schmähen, nicht denen, die nach ihrem Heil sich sehnen. „Darum“, heißt es, „rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehen und nicht sehen, hören und nicht hören noch verstehen“4 . Warum? Weil derjenige, der das Vergangene schmäht, nicht würdig ist die Gnade zu erkennen, der das Gesetz verhüllte, damit es nicht erkannt würde. „Weh euch“, heißt es, „ihr Schriftgelehrten, die ihr nahmt den Schlüssel der Erkenntnis; ihr selbst tratet nicht ein, und die hinein wollten, hieltet ihr ab!“5 . „Er trug ihnen“ heißt es, ein Gleichnis vor und sprach: „Das Himmel reich ist gleich einem Menschen“6 . Wie kann denn Christus zum Anstoß werden, wenn er den Menschen gleich geworden ist7 , um dem untergehenden Menschengeschlechte zu Hilfe zu kommen? Erregt der Herr Anstoß, wenn er, um die Sklaven frei zu kaufen, erfunden wurde selbst in der Gestalt eines Knechtes8 , wenn er, was er besitzt an zukünftiger Herrlichkeit, bei seiner Ankunft in seinem Reiche mit einem Menschen vergleicht? „Das Himmelreich“, sagt er, „ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut darüber unter den Weizen und ging davon“9 Ihr habt gehört, wie der Sämann der Welt den Anfang der Dinge gut säte, und dass kein Übel ausgegangen ist von dem Urheber des Anfanges. Von dem Feinde ist darüber gesät worden das Übel; denn das Übel ist nicht geschaffen von dem Schöpfer der Welt. „Und es sah“, heißt es, „Gott alles, was er S. 122gemacht hatte, und es war sehr gut“10 . „Gut“, und sogar „sehr gut“; denn die Welt, die Gott durch seine Tat gut erschuf, hat unrein gemacht der vergiftende Feind. Und den Menschen, den der Herr setzte in das Paradies der Freude zum Leben11 , hat der Feind hinabgezogen in dieses Tal der Mühsal zum Tode. Und die Liebe, die Gott mit der Natur einpflanzte in das Fleisch, hat der Feind aus Neid gewandelt zum Brüdermord. Dies beweist Kain, der zuerst die Erde färbte mit dem Blut seines Bruders und zum Verderben des Bruders wurde ein wahrer Erzmörder12 . So zerreißt der Tod, der aus der Zwietracht geboren ist, stets die Liebe der Menschen.
Und weil es zu weitläufig wäre, alles im einzelnen aufzuzählen, sind wir gezwungen, in wenigen Beispielen klarzumachen, wie der Feind über das Gute das Böse, über die Tungenden die Laster, über die Lebendigen den Tod stets zu unserem Verderben sät. Hat Gott nicht aus einem Menschen die ganze Erde erfüllt? Hat er nicht als ein guter Sämann aus einem Samen das ganze Menschengeschlecht vermehrt zu so reicher Ernte? Aber der Feind hat die Menschen bald bis auf einen Menschen reduziert und hat dadurch, dass er Böses darüber säte, die gute Saat durch die Sintflut vernichtet, nicht aber begossen. So hat er das Gesetz, das mit göttlichen und wahrhaftigen Satzungen gesät war, gefälscht mit menschlichen und lügnerischen Erfindungen, so dass aus dem Priester ein Verfolger, aus dem Lehrer ein Verderber, aus dem Verteidiger des Gesetzes ein Feind [des Gesetzes] wurde. So hat er die Geschöpfe, die geschaffen waren zur Erkenntnis Gottes, in lügnerischer Weise selbst zu Göttern gemacht, damit Gott selbst nicht mehr erkannt würde. Dadurch machte er die Weisen dieser Welt zu Toren, die Erforscher der Welt schlug er mit Blindheit, die Lehrer der Weisheit mit Unwissenheit, die da allen Dingen nachforschen, mit Unkenntnis. So hat auch er, der Feind, die Saat des Evangeliums, die gesät war mit himmlischem Samen, in S. 123Verwirrung gebracht dadurch, dass er das Unkraut der Irrlehre darüber säte, damit er die Garben des Glaubens machte zu Feuerbränden der Hölle, damit die Scheunen des Himmels ermangelten des Weizens. Doch wozu soll ich noch mehr sagen? Nach dem er selbst aus einem Engel ein Teufel geworden war, suchte er jedes Geschöpf durch Kunstgriffe und listige Anschläge, mit offener oder geheimer Gewalt heim, damit auch kein Geschöpf in seinem Leben sicher sei. Doch nun wollen wir die Worte des vorliegenden Gleichnisses erklären. „Das Himmelreich ist gleich einem Menschen.“ Welchem? Ohne Zweifel Christo. „Der guten Samen säte.“ Denn die Natur des Schöpfers schließt in dem Samen der Welt selbst das Böse aus. „Auf seinen Acker“, d. h. auf die Welt, wie der Herr sagt: „Ein Acker ist die Welt“13 .
„Als aber die Menschen schliefen“,d. h. als die heiligen Väter, Patriarchen, Propheten, Apostel, Märtyrer in dem Schlage des Todes zeitlich entschliefen; denn der Tod der Heiligen ist nur ein Schlaf, der Tod der Sünder aber in Wahrheit ein Tod, weil die Sünder in der Hölle leben nur für die Strafe, für das Leben aber tot sind. „Da kam sein Feind“, d. h. der Teufel, „und säte Unkraut darüber.“ „Darüber säte er“, nicht „säte er“. Voraus gingen die guten Taten des Schöpfers, nach folgten die schlechten des Teufels, [damit man erkenne,] dass das Böse, das vom Teufel ist, etwas Zufälliges [ein Akzidens], nicht aber etwas Wesenhaftes sei14 . „Er säte Unkraut darüber unter den Weizen.“ Denn der Teufel pflegt zu säen Irrlehren unter den Glauben, Sünder unter die Heiligen, Streitsüchtige unter die Friedfertigen, Betrüger unter die Einfältigen, Gottlose unter die Unschuldigen. Und das tut er umsonst, nicht um das Unkraut für sich zu gewinnen, sondern um den Weizen zu S. 124verderben; nicht um die Schuldigen zu fangen, sondern um die Unschuldigen zu vernichten. Der Feind geht ja mehr auf den Führer als auf den einfachen Soldaten los, bedrängt nicht die Toten, sondern bekämpft die Lebenden. So sucht der Teufel nicht die Sünder zu verderben, die er ja in seiner Gewalt schon hat, sondern er müht sich so ab, um die Gerechten zu fangen. „Und säte Unkraut darüber unter den Weizen und ging davon.“ Denn mit Macht treibt der Teufel zum Verderben hin; aber wenn er [den Menschen] zu Boden geworfen hat, geht er davon; denn nicht den Menschen sucht der Teufel, sondern seinen Untergang. Brüder! Jener freut sich an unserem Elend, er wird stolz durch unseren Fall, er gesundet durch unsere Wunden, er dürstet nach unserem Blute, er sättigt sich an unserem Fleische, er lebt aus unserem Tode. Der Teufel will nicht den Menschen, sondern sein Verderben. Warum? weil es ihn, da er vom Himmel fiel15 , nicht leidet, weil er nicht will, weil er es nicht erträgt, dass der Mensch dorthin gelange. Aber weil uns unsere Rede heute schon zu lange aufgehalten hat, wollen wir das übrige verschieben, damit wir später die gemeinsame Arbeit wieder aufnehmen, und, was noch übrig ist, tiefer ausführen können. Gott aber möge mir die Gnade der Rede und euch das Verlangen zu hören verleihen!
ich lese mit Januel carnalibus sensibus subjacerent statt subjicerentur, wie auch an mehreren anderen Stellen zu lesen ist ↩
Mt 13,24 ↩
es ist inter infidelem fidelemque zu lesen wie das folgende inter impium et pium erweist. ↩
Mt 13,13 ↩
Lk 11,52 ↩
Mt 13,24 ↩
Phil 2,7 ↩
ebd ↩
Mt 13,24f. ↩
Gen 1,31 LXX ↩
Gen 2,8 ↩
Gen 4,8 ff. Dignus exstitit dedicator ↩
Mt 13,38 ↩
accidens, non natura ↩
vgl. Lk 10,18 ↩
