Siebenunddreißigster Vortrag: Über die Stelle: "Und er ging wieder in sich und sprach: 'Wie viele Taglöhner meines Vaters haben Brot im Überfluß...'" bis: "'Halte mich wie einen deiner Taglöhner'". Lk 15,17-19
Wir haben in der vorhergehenden Rede, so gut wir konnten, zur Gernüge betrachtet, wieviel Leid den verschwenderischen Sohn, den Sohn, der den besten Vater S. 204schmählich verließ, zu Boden geworfen hatte, so dass er sich durch Hunger aufgerieben, dem Dienste der Schweine überantwortete. Nun laßt uns seine Rückkehr, seine Buße, wie es unser inniger Wunsch ist, auch mit freudigeren Worten behandeln! "Und er kehrte in sich", heißt es, "und sprach: 'Wie viele Taglöhner meines Vaters haben Brot im Überfluß!'"1 . "Er ging wieder in sich"2 . Er mußte zuerst in sichwieder zurückkehren, um zum Vater zurückkehren zu können, da er ja vorher auch sich selbst verlassen hatte, als er sich vom Vater entfernte3 . Sich selbst verläßt, den Menschen in sich wandelt vollends um zum Tier, wer der Vaterliebe nicht mehr gedenkt, der Vatergüte vergißt! "Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluß; ich aber sterbe hier vor Hunger"4 . Der Hunger ruft den zurück, den der Überfluß vertrieben hat; der Hunger gibt dem wieder zurück die Lust am Vater, den der Reichtum gefühllos gemacht hat gegen den Erzeuger! Und wenn der so ungesuchte Hunger eine so große Macht hat, so würdigt auch hier bei, welch großen Nutzen ein freiwilliges Fasten einträgt. Ein gefüllter Leib zieht das Herz nieder zum Laster, legt sich drückend auf den Geist, macht ihn empfindungslos für höhere Liebe! "Der vergängliche Leib", heißt es, "beschwert die Seele, und die irische Fülle drückt nieder den Geist, der vieles denkt"5 . Daher sagt auch der Herr: "Habet acht, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Schwelgerei und Trunkenheit!"6 . Durch maßvolles S. 205Fasten muß also der Leib erleichtert7 werden, damit der so befreite Geist sich aufschwinge zur Höhe, emporsteige zu großen Taten, ja gleich einem Vogel hinauffliegen könne zum Urheber der Heiligkeit selbst! Hierfür ist Elias ein Beispiel, der durch ein ebenso langes Fasten, wie der Herr es geübt, sich von der Last des Fleisches befreite und als Sieger über den Tod zum Himmel hinauffuhr8 .
"Ich will mich aufmachen und zu meinen Vater gehen"9 . Er lag ja am Boden, als er sprach: "Surgam", ich will mich aufmachen." Er sah seinen Fall ein, er erkannte seinen Sturz, sah sich liegen im Schlamme der schändlichen Ausschweifung, und darum ruft er aus: "Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen!" Doch welche Hoffnung, welches Vertrauen, welche Zuversicht treibt ihn? Welche Hoffnung? Jene, die ihm sagt: Es ist der Vater! Ich habe verloren, was dem Sohne gehörte; aber jener hat nicht verloren, was ihn als Vater auszeichnete. Bei dem Vater braucht kein Fremdling zu vermitteln: Die Liebe, die im Herzen des Vaters lebt, vermittelt und bittet genug. Die Liebe drängt den Vater, den Sohn noch einmal zu zeugen durch Vergebung. Als Schuldner will ich zum Vater gehen: aber der Vater deckt, sobald er den Sohn erblickt, sofort des Sohnes Schuld; er verleugnet den Richter in sich, da er ja mehr als Vater sich zeigen will. Schnell wandelt er den Richterspruch um in ein Gnadenwort; er will ja, dass der Sohn zurückkehre und nicht verloren gehe10 . "Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir"11 . In seinem Bekenntnis nennt er den Vater, in seiner Rede spricht er von seinem Erzeuger. "Ich habe gesündigt wider den Himmel und vor S. 206dir." Derjenige, gegen den im Himmel gesündigt wird, ist kein irdischer, sondern ein himmlischer Vater, und darum fügt [der Sohn] hinzu: "Und vor dir". Denn vor seinen Augen ist offenbar alles, was im Himmel und was auf der Erde geschieht12 . "Ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen"13 . Er war in die Fremde hinausgezogen, in ein fremdes Land geflohen.
Aber seinen Anklägern, seinen Zeugen [die wider ihn sprachen] war er nicht entflohen: den Augen des himmlischen Vaters entfloh er nie! Darüber belehrt noch deutlicher uns David, der sagt: "Wohin soll ich vor deinem Geiste? wohin fliehen vor deinem Angesichte? Stiege ich zum Himmel empor, so bist du da; stiege ich in die Unterwelt hinab, so bist du da! Wenn ich meine Flügel erhöbe von der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Ende des Meeres, so wird auch dort deine Hand mich leiten und deine Rechte mich erfassen"14 . Er sieht ja, dass über die ganze Welt hin alle Vergehen offen liegen vor Gottes Auge; nicht der Himmel noch die Erde, nicht die Meere noch die Tiefen, ja selbst die Nacht kann nicht vor Gott die Vergehen verhüllen. Er erkennt, welch großer Frevel, welch großes Übel es ist, vor Gottes Augen selbst zu sündigen. Und darum ruft er aus: "Vor dir allein habe ich gesündigt und Übles vor dir getan!"15 . Und darum ruft auch dieser jüngere Sohn in lauter Klage aus: "Ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen." Nicht sagt er: "Ich bin nicht mehr wert dein Sohn zu sein", sondern: "Ich bin nicht mehr wert dein Sohn genannt zu werden"16 ; denn das Berufenwerden ist Sache der Gnade, das Sein aber der Natur. Vernimm, was der Apostel sagt: "Von dem, der euch berufen hat, zu seiner Gnade"17 . Weil S. 207also dieser jüngere Sohn verloren hatte, was ein Geschenk der Natur war, glaubte er auch, dass er nicht würdig sei der Gnade. "Halt mich wie einen deiner Tagelöhner." Seht, wie tief der Sohn gefallen, wohin den Sohn die Gier nach Schwelgerei, der jugendliche Freiheitsdrang geführt hat! "Halte mich wie einen deiner Tagelöhner." Nach Art eines jährlichen Mietsvertrages soll die Knechtschaft erneuert, durch mühevolle Arbeit soll die einmal errungene Lage wieder zerstört werden; den ganzen Tag soll er als Sklave seufzen unter der Arbeit eines armseligen Lohnverhältnisses, er soll ewig sein eigener Verkäufer sein und nie mehr soll er seine Knechtschaft verleugnen können! Und darum bittet er, weil er, da er ja bei einem fremden Herrn eine knechtische Freiheit kennen gelernt hat, nunmehr glaubt, bei dem Vater eine ständige freie Knechtschaft zu genießen.
Nun aber, Brüder, möchte ich gerne das Geheimnis unserer Lesung euch enthüllen, wenn mich nicht der Gedanke abhielte, dass ich es später mit größerem Nutzen tun könnte. Denn ich sehe, dass ihr nicht mit gebührendem schmerzlichen Anteil zuhört, und es ist doch unsere Angelegenheit , sondern, gleichsam als ginge es euch nichts an, darüber eilenden Geistes hinwegflieht. Unsere Lage, ja die unsrige, was uns zum Heile dient, tut uns der Herr kund, und zu unserer Besserung häuft Christus die geheimnisvollen Beispiele. Er wollte ja nicht ein Herr von Sklaven sein, er, der mehr geliebt als gefürchtet sein will, er, der sich selbst zum Lebensbrot gab18 , der sein Blutausgoß in den Kelch des Heiles. Durch diese Beispiele, die in der Vergangenheit sich abspielen, will er uns, die wir jetzt leben, und die noch später leben werden, bessern, damit wir nicht den guten Vater und den liebevollen Erzeuger schmählich verlassen, in ein fernes und allzu fremdes Land hinausstreben und dort in schwelgerischem Leben das Vermögen des ewigen Heiles und Lebens ganz verlieren, damit wir nicht, wenn wir dann alles durchgebracht haben, den überaus schweren Hunger der Hoffnung S. 208ertragen müssen und uns dem Fürsten jenes Landes, d. i. dem Urheber der Verzweiflung, dem Teufel, schließlich überlassen müssen. Dieser schickt uns auf sein Landgut, d. h. in die Lusttäler dieser Welt, schickt uns die Schweine zu hüten, zu denen nämlich, die stets zur Erde gerichtet dem Bauche dienen19 ,und des Fleisches Lust in dem Bade des Schmutzes kühlen, im Kote uns wälzen und im Strudel der Laster uns erfrischen. Dass er aber seine Mietlinge schickt zu den Schweinen, dazu treibt ihn seine unersättliche Grausamkeit, die nicht zufrieden ist, wenn die Menschen zu Verbrechern werden, nein: sie sollen auch werden zu Fürsten des Lasters, zu Lehrmeistern der Verbrechen. Und wenn er sie dazu gemacht hat, läßt er nicht ab, sie zu nähren mit der Speise und dem Tranke der Schweine selbst: von Hunger getrieben sollen sie nur noch mehr sündigen; denn die Ausschweifung kennt keine Sättigung, die Wollust keine Befriedigung.
Darum laßt uns bei dem guten Vater bleiben, laßt uns ausharren bei dem liebevollen Erzeuger, damit wir den Fallstricken des Satans entgehen und für alle Zeit des Vaters Güte genießen können! Den tieferen Sinn wollen wir später erforschen, weil wir der versammelten Gemeinde und ihrer sittlichen Auffassung noch mehr schulden.
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Lk 15,17 ↩
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in se reversus est ↩
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Wortspiel: qui a se ante recesserat, cum recessit a patre ↩
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Lk 15,17 ↩
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Wh 9,15 ↩
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Lk 21,34 ↩
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das vollständig unverständliche vaevandus bei Migne ändere ich in vacuandus ↩
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vgl. 3 Kön 19,8; 4 Kön 2,11 ↩
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Lk 15,18 ↩
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vgl. Ez 33,11 ↩
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Lk 15,18 ↩
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vgl. Job 28,24 ↩
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Lk 15,18f. ↩
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Ps 138,7-10 ↩
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Ps 5o,6 ↩
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vocari. Das Wortspiel ist im Deutschen unnachahmlich ↩
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Gal 1,15, Paulus redet von sich, Chrysologus allgemein! ↩
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vgl. Joh 6,35 ↩
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ich lese vivunt od. serviunt ventri statt des unverständlichen viunt venti bei Migne; vgl. Röm 16,18; Phil 3,19 ↩