Neununddreißigster Vortrag: Über die Stelle: "Sein älterer Bruder war auf dem Felde, und da er heimkehrte und sich dem Hause näherte..." bis: "'Dieser dein Bruder war tot und lebte wieder, er war verloren und ward wieder gefunden'." Lk 15,25-32
Während wir uns noch freuen über die Rückkehr und die Rettung des jüngeren Sohnes, müssen wir nun tränen- und schmerzerfüllt uns verbreiten über den Neid des älteren Sohnes, der die große Tugend der Genügsamkeit verloren hat durch die maßlose Sünde der Eifersucht und des Neides. "Sein älterer Sohn", heißt es, "war auf dem Felde, und da er heimkehrte und sich dem Hause näherte, vernahm er Musik und Tanz. Er rief einen von den Knechten und erkundigte sich, was das zu bedeuten hätte. Dieser antwortete: 'Dein Bruder ist wieder da, und dein Vater hat das Maßtkalb schlachten lassen, weil er ihn gesund wiedererhalten hat'. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen"1 . "Sein älterer Sohn" heißt es, "war auf dem Felde". Er war auf dem Felde, bebaute den Acker, vernachlässigte aber sich selbst; lockerte die Härte des Rasens, S. 214verhärtete aber dabei sein Herz; Disteln und Unkraut rottete er mit der Wurzel aus, die Stacheln des Neides aber riß er nicht aus seinem Herzen. So erntete er von dem Samen der Habsucht als Frucht nur Eifersucht und Neid. "Und da er heimkehrte und sich dem Hause näherte, vernahm, er Musik und Tanz." Einen neidischen Menschen vertreibt die Musik der Liebe; der Reigen der Liebe schließt ihn aus. Und wenn ihn auch der Drang der Natur zum Bruder hinführte und ihn sich dem Hause nähern ließ: die Eifersucht ließ ihn nicht hineingehen. Der Neid ließ ihn nicht eintreten. Denn der Neid ist ein altes Übel, die erste Sünde, ein altes Gift, das Gift der Welt, die Ursache des Todes. Er war es, der im Anfang selbst die Engel aus dem Himmel warf und sie hinabschleuderte in die Tiefe2 . Er war es, der den Stammvater unseres Geschlechtes von dem Paradiese ausschloß3 . Er war es, der diesen älteren Bruder vom Vaterhause fernhielt. Er war es, der der Nachkommenschaft Abrahams, dem heiligen Volke, die Waffen in die Hand gab, um seinen Schöpfer zu morden, seinen Erlöser zu töten. Der Neid, dieser im Innern wütende Feind, erschüttert nicht die Mauern des Fleisches, zerstört nicht die Wälle der Glieder, sondern er stürmt an gegen die Burg des Herzens selbst, und ehe das Herz es noch ahnt, hat er schon die Seele, die Herrin des Körpers, räuberisch gefangen und hält sie gefesselt. Wenn wir also himmlischen Ruhm verdienen, wenn wir das Glück des Para dieses besitzen, wenn wir im Hause des ewigen Vaters wohnen, wenn wir nicht für Mörder des Himmels gehalten werden wollen, so laßt uns wachsam sein im Glauben und unter dem Lichte des Geistes die finsteren Listen des Neides bannen und überwinden; laßt uns den Neid unterdrücken mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften, die uns die Waffenrüstung des Himmels verleiht! Denn wie die Liebe uns mit Gott verbindet, so trennt uns der Neid von Gott.
S. 215"Sein Vater ging also hinaus und fing an, ihn zu bitten"4 . Das angefüllte Herz des Vaters wird bedrängt von den gegensätzlichen Gesinnungen solcher Söhne; zwischen dem verschiedenen Verhalten seiner Söhne schwankt die Liebe des Vaters erschüttert hin und her. Denn er sieht den Bruder durch die Rückkehr des Bruders sich entfremdet, durch die Rettung des einen den andern für sich verloren gehen; er sieht, dass der lange Trennungsschmerz, der durch die kurze Freude [des Wiedersehens] aufgewogen wurde, nunmehr durch das Gift des Neides wieder aufgewühlt werde. O Zunder der Eifersucht, die zwei Brüder in einem so weiten Hause nicht zusammenwohnen läßt! Soll uns das wundernehmen, Brüder? Hat doch der Neid es fertig gebracht, dass die weite Welt zu enge war für zwei Brüder; denn er war es doch, der den Kain aufstachelte zum Morde seines jüngeren Bruders5 ; der eifersuchtsvolle Neid sollte ihn machen zum Einziglebenden, wie er auch der Erstgeborene war nach dem Gesetze der Natur6 . "Er aber antwortete und sprach zu seinem Vater: 'Sieh, so viele Jahre diene ich dir'7 . So versucht schlau zu sein, der es wagte, die Liebe [des Vaters] selbst vor einen Richterstuhl zu rufen. "Sieh, so viele Jahre diene ich dir." Sieh da, mit welcher Gegenleistung der Sohn dem Vater die Wohltat der Erzeugung vergilt! "Niemals habe ich deinen Befehl übertreten." Das hast du nicht deiner Unschuld, sondern deines Vaters Nachsicht zu verdanken; denn in seiner großen Liebe will er die Fehler seines Sohnes lieber zu als aufdecken!
"Und du gabst mir nie ein Böcklein, dass ich mit meinen Freunden ein Freudenmahl gehalten hätte"8 . Ein Gemüt, das scheel auf seinen Bruder sieht, kann nicht von Dank erfüllt sein gegen den Vater, und der will sich nicht erinnern der Freigebigkeit des Vaters, S. 216wer stets uneingedenk ist der brüderlichen Liebe! Er will kein Böcklein empfangen haben, er, der doch den ganzen Teil des ihm zustehenden Vermögens bei der Teilung erhalten hat! Denn als der jüngere Bruder vom Vater die Teilung des Vermögens erlangte, teilte der Vater sofort das ganze Vermögen unter beide Brüder, wie der Evangelist sagt: "Und er teilte unter beide das Vermögen"9 . Aber der Neidische heuchelt immer, der Neidische bekennt nie die Wahrheit! "Und du gabst mir nie ein Böcklein, dass ich mit meinen Freunden ein Freudenmahl gehalten hätte." Seines Vaters Freunde hält er nicht für seine Freunde; er hält sie nicht für Freunde, sondern für Fremdlinge, die doch auch ihn, wie er sah, liebten um seines Vaters willen. "Jetzt aber, da dein Sohn, der sein Vermögen mit Dirnen verpraßt hat, gekommen ist, hast du das Mastkalb für ihn schlachten lassen"10 . Jetzt schmerzt ihn die Rückkehr seines Bruders, nicht aber der Verlust des Vermögens; jetzt ist es nicht der Gedanke an den Schaden [den er erlitten hat,] sondern der Neid ist es, der ihn zu dieser Klage veranlaßte: er hätte den zurückkehrenden Bruder von seinem Vermögen ausstatten sollen, ihn aber nicht wegen des verlorenen Vermögens so schänden dürfen! Das ganze Vermögen des Vaters ist der Sohn, und darum hat der Vater nichts verloren, wenn er den Sohn wiederbekommen hat. Der Bruder aber hält es für einen Verlust, da er den Miterben wieder heingekehrt sieht. Ja, wann ist denn der Neidische nicht auch habsüchtig? Wann glaubt [ein solcher] denn nicht11 selbst das von seinem eigenen Vermögen verloren zu haben, was ein anderer besitzt?
"Doch der Vater sprach zu ihm: 'Mein Sohn, du bist immer bei mir und all meine Habe ist dein. Ein Freudenmahl aber mußte man halten, denn dein Bruder da war tot und lebt wieder; er war verloren und ward S. 217gefunden'12 ." Seht da die Macht der Liebe! Auch für den nichtswürdigen Sohn [der ältere] kann der Vater nicht anders als Vater sein. Er sieht, dass der Sohn entartet ist, dass er so ganz unwert der väterlichen Liebe ist, des väterlichen Geschlechtes und doch nennt er ihn Sohn, und doch mahnt er ihn zur Liebe13 , und doch ruft er ihm ins Gedächtnis zurück die große Gunst und die Hoffnung auf seine [des Vaters] Großmut. "Du bist immer bei mir und all meine Habe ist dein." D. h.:sei doch zufrieden, dass der Sohn zum Vater zurückgekehrt ist; laß doch dem Vater die Freude, den Sohn wieder aufgenommen zu haben! Denn nichts anderes als den Vater suchte jener, der ja nicht als Sohn, sondern als Tagelöhner behandelt werden wollte, da er sprach: "Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir; ich bin nicht wert dein Sohn zu heißen. Halte mich wie einen deiner Tagelöhner"14 . Dir soll ja alles [andere]gehören; ihm genügt der Vater! Und damit dir von dem, was jetzt noch vorhanden ist und was schon länger in deinem Besitze ist, nichts verloren gehe, will ich ihm Neues und Künftiges erwerben. Fürwahr, wenn du dem Rate und der Meinung deines Vaters folgen willst, so teile das, was vorhanden ist, mit deinem Bruder, damit auch das, was noch erworben wird, dir mit ihm gemeinsam sei. Freue dich also und frohlocke, dass er wiedergefunden ist, damit auch jener sich freuen kann, dass du ihm nicht verloren gegangen bist! Doch nun laßt uns die Predigt über die Erzählung15 schließen, damit wir später das, was tief verborgen ist, die mystische Auslegung, unter dem Beistand der Gnade Christi weiter erörtern.