Vierzigster Vortrag: Über dieselbe Stelle: Lk 15,11-32: Die mystisch-typische Auslegung
S. 218Es ist die Art eines schlauen und unverschämten Schuldners, seine Verpflichtungen nur selten einzulösen und den allzu gutmütigen Gläubiger Vorspiegelungen lange hinzuhalten. Über den Weggang und die Rückkehr des verschwenderischen Sohnes haben wir bis jetzt schon vier Vorträge gehalten, und in dieser fünften Predigt erst wollen wir es wagen, nach unserem Versprechen den geschichtlichen Sinn der Erzählung zu erheben zum mystischen und einzigartigen göttlichen Verständnis. Betet ihr, dass ich, der ich in der Einlösung einer so großen Schuld aus mir selbst nur ein wenig fähiger Schuldner bin, durch Gottes Gnade für euch ein guter Zahler werde! "Ein Mensch hatte", so heißt es, "zwei Söhne"1 . Nachdem Christus unseres Fleisches Bürde auf sich genommen und als Gott Menschengestalt angenommen hat2 , nennt sich Gott in Wahrheit Mensch. Der Herr [Gott-Vater] nennt sich in Wahrheit Vater zweier Söhne3 ; denn die mit der Gottheit vermischte Menschheit4 und das mit der Gottheit vereinigte [menschliche] Empfinden vermischte den Menschen und Gott5 und machte den Herrn zum Vater. Dieser Mensch6 also, dieser [himmlische] Vater, hatte durch die Gnadentat der Schöpfung, nicht durch Zeugungsnötigung, zwei Söhne, die ihr Dasein nicht [aus sich selbst] verdienten, sondern die er S. 219durch seinen Befehl ins Dasein rief; denn7 Christus wandelte zwar vor unseren Augen als Mensch, aber er blieb trotzdem immer in der Unnahbarkeit seiner göttlichen Majestät. "Er hatte zwei Söhne", zwei Völker nämlich, das jüdische und das heidnische. Aber das jüdische Volk war das ältere durch die Kenntnis des Gesetzes, das heidnische Volk machte die Torheit des Götzendienstes zum jüngeren.
Denn wie die Weisheit das Greisenalter auszeichnet8 , so nimmt die Torheit dem Manne alles, was ihn auszeichnet. Dieses [heidnische Volk] machte nicht das Alter, sondern sein Verhalten zum jüngeren; jenes war der ältere nicht durch die Jahre, sondern durch die Erkenntnis9 . "Und der jüngere von ihnen", heißt es, "sprach zum Vater: 'Vater gib mir den Anteil des Vermögens, der mir zukommt'10 . Und was ist dieser Teil? Worin besteht er? Gestalt, Sprache, Wissen, Vernunft, Rechtssinn, was den Menschen vor den übrigen Lebewesen auf dieser Erde auszeichnet, oder nach dem Apostel: das Gesetz der Natur11 . Aber deshalb teilt er unter sie das Vermögen, indem er dem jüngeren die Wohltaten der Natur, die wir soeben aufzählten, zuteilte, dem älteren aber gab er die fünf Bücher des Gesetzes und schrieb sie mit göttlichem Griffel ein. So war das Vermögen, wenn S. 220auch ungleich dem Werte, so doch das Zahl nach gleich: dieses wahrte die menschliche Ordnung, jenes sollte auf göttlicher Anordnung beruhen. Jedes [der beiden] Gesetze aber sollte beide Söhne führen zur Erkenntnis des Vaters und in ihnen die Ehrfurcht vor dem Urheber erhalten. "Und wenige Tage später", heißt es, "nahm der jüngere Sohn alles zusammen, zog fort in ein fernes Land imd brachte da sein Vermögen durch, indem er schwelgerisch lebte"12 . Wir sagten eben, dass dem einen nicht die Zeit, sondern sein Verhalten zum jüngeren Sohn gemacht habe. Und darum heißt es: "Und wenige Tage später". Denn da schon gleich im Anfang der Welt die Heiden in das Land des Götzendienstes, durch das fremde Land des Teufels eilten, weilten sie auch geistig dort als Fremdlinge, nicht räumlich durchsuchten sie in eitlen Gedankengebilden die Elemente der Natur, wurden sie nicht nur in körperlicher Bewegung über die Erde hin und hergeschleudert; denn obwohl sie vor dem Angesichte des Vaters lebten, so waren sie doch ohne den Vater, und obwohl sie in sich waren, so waren sie doch nicht bei sich13 . Darum hat die Heidenwelt in schwelgerischer Weise infolge ihres Verlangens nach irdischer Weisheit, hindurcheilend durch die Unzuchtsstätten der Schulen14 , über die Pfade der Parteiungen in verblendetem Geistesstreben das Vermögen des Vater-Gottes verschleudert. Und nachdem sie in Hypothesen irdischer Weisheit ausgezehrt hatte, was an Sprache, Wissen, Vernunft und Rechtssinn ihr verliehen war, mußte sie höchsten Mangel leiden, und allein durch Hunger nach Erkenntnis der Wahrheit fristete sie nun in beklagenswertester Weise ihr Leben. Denn die Philosophie bemühte sich zwar mit vieler Mühe, die Gottheit zu erforschen, aber sie hatte keinen Erfolg: die Wahrheit fand sie nicht. Daher verdingte sie sich an den S. 221Fürsten jener Gegend, von dem sie in jene irdische Welt geschickt wurde, d. h. in die sonderbaren Stätten vielgestaltigen Aberglaubens. Dort sollte sie Schweine, d. h. Dämonen hüten, die dem Herrn sagten:
"Wenn du uns austreibst, schicke uns in die Schweine"15 . Mit Weihrauch, Schlacht und Blutopfern sollte sie dort die Dämonen weiden, und für solche Mühe sollte sie als Lohn empfangen falsche Orakelsprüche. Man schlachtete ein Tier, damit es in seinem Tode das weissagte, was es in seinem Leben nicht kannte, und aus den Eingeweihten sollte das Tote sprechen, was vorher niemals mit dem Munde geredet hatte. Da aber die Heidenwelt dadurch nichts Göttliches, nichts Heiligendes für sich erfuhr, verzweifelte sie an Gott, an der Vorsehung, an der Gerechtigkeit, an der Zukunft und von der gelehrten Arbeit wandelte sie sich dem Dienste des Bauches16 zu und wünschte sich zu sättigen mit den Schoten, welche die Schweine fraßen17 . Dies taten die Epikureer. Sie durchliefen die Schulen des Plato und des Aristoteles, und als sie hier keine Belehrung über göttliche und wissenswerte Dinge fanden, huldigten sie schließlich dem Epikur, dem Lehrer der Verzweiflung und der Sinnenlust18 . Und nun verzehren sie Schoten, d. h. sie haschen nach dem süßen Gift der fleischlichen Lust und weiden Dämonen, die stets sich mästen mit Lastern und an dem Sündenschlamme des Fleisches, denn wie "der, der sich dem Herrn verbindet, ein Geist ist mit ihm"19 , so ist der, der sich mit dem Teufel verbindet, ein Dämon mit ihm! Aber obwohl der jüngere Sohn so in heißem Verlangen strebte, er sättigte doch nicht seinen Leib mit jenen Schoten.
Und warum? Weil "niemand sie ihm S. 222gab"20 . Gewiß, der Teufel sollte zwar seinerseits durch den Durst nach Wissen, durch die Macht der Sinneslust die Heidenwelt noch mehr mit Gier erfüllen nach den verbotenen Früchten, sie noch gieriger machen, durch die Welt der Frevel hindurchzueilen. Aber Gott-Vater ließ deshalb die Heiden hungern, um aus ihrem Irrglauben den Beweis für ihre Rettung[snotwendigkeit] zu nehmen. Denn dem jüdischen Volke entzog er sich nur insoweit, dass es nicht verloren ging; das heidnische Volk aber ließ er hungern, damit es [von Hunger getrieben] wieder [zu ihm] zurückkehre. Und es kehrte auch zurück und rief aus: "Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir"21 . Die Rückkehr des jüngeren Sohnes in das Vaterhaus und sein Rufen zu Gott dem Vater bezeugt die Kirche ja täglich in ihrem Gebet, wenn sie spricht: "Vater unser, der du bist im Himmel"22 "Ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir." Die Heidenwelt sündigte gegen den Himmel, als sie die Sonne, den Mond und die Sterne am Himmel götzendienerisch als Götter verehrte23 , und schändete so durch diese ihre Anbetung die Geschöpfe selbst. "Ich bin nicht wert dein Sohn zu heißen. Halte mich nur wie einen Tagelöhner"24 . D. h. weil ich nicht wert bin des Sohnes Ehrenstellung und der Verzeihung, will ich lieber durch meiner Hände Arbeit den Lohn des Tagelöhners verdienen. Dem der Ruhm des Geschlechtes verloren ging, sollte doch wenigstens im täglichen Brotverdienst des Lebens Nahrung bewahrt bleiben. Aber der Vater "kam" [den Heiden] entgegen, und er kam ihm entgegen von weitem25 . Denn "da wir noch in Sünden waren, ist Christus für uns gestorben"26 . "Der Vater kam entgegen." Er kam [ihnen] entgegen in seinem Sohne, damals, als er durch diesen vom Himmel herabstieg S. 223und auf die Erde kam27 , wie es heißt: "Der Vater, der mich gesandt hat, ist mit mir"28 . "Er fiel ihm um den Hals"29 . Damals fiel er ihm um den Hals, als in Christus die ganze Gottheit herabstieg und in unserem Fleische ruhte.
"Und küßte ihn"30 . Wann? Damals, als "die Barmherzigkeit und die Wahrheit sich begegneten, als die Gerechtigkeit und die Freude sich küßten"31 . "Er gab ihm das beste Kleid." Jenes nämlich, das Adam verloren hat, das ewige Ehrenkleid der Unsterblichkeit. "Er legte einen Ring an seinen Finger"32 , den Ring der Ehre, das Kennzeichen der Freiheit, das erhabene Unterpfand des Geistes, das Siegel des Glaubens, den Brautschatz der himmlischen Vermählung. Höre, was der Apostel sagt: "Ich habe euch einem Manne verlobt, als reine Jungfrau euch Christo darzustellen"33 . "Und Schuhe an seine Füße", damit beschuht seien die Füße derer bei der Verkündigung des Evangeliums, wie es heißt: "Damit herrlich seien die Füße derer, die den Frieden verkünden"34 . "Und er ließ das Mastkalb schlachten", jenes nämlich, von dem David sang: "Es wird dem Herrn gefallen das junge Kalb, das Hörner und Klauen trägt"35 . Das Kalb wird so auf den Befehl des Vaters geschlachtet; denn Christus, Gott, Gottes Sohn konnte ohne den Willen des Vaters nicht geschlachtet werden, wie der Apostel sagt: "Der seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat"36 : er ist das Kalb, das zu unserer Nahrung täglich und immer geopfert wird. Aber der ältere Bruder, der ältere Sohn kam vom Felde, nämlich das Volk des Gesetzes von ihm heißt S. 224es: "Die Ernte ist zwar groß, aber der Arbeiter sind wenige"37 , hört im Hause des Vaters Musik und Tanz, aber er will nicht hineingehen. Das sehen wir ja täglich mit unsern eigenen Augen. Es kommt zwar der Jude zum Hause des Vaters, zur Kirche; aber vor der Türe bleibt er stehen aus Neid. Er hörte die Laute Davids klingen, er hörte den Gesang der Propheten in schöner Harmonie ertönen, er hört die Chöre, die sich zusammenfügen aus den verschiedenen Völkern aber er will nicht eintreten, aus Neid bleibt er vor der Türe stehen. Während er den Bruder aus der Heidenwelt verurteilt und verabscheut infolge seiner alteingewurzelten Meinungen, beraubt er sich selbst der Güter des Vaters, schließt sich selbst aus von den Freuden des Vaterhauses. Und wenn er sagt: "Sieh, so viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich dein Gebot übertreten, und du gabst mir nie ein Böcklein"38 , so wollen wir hier lieber schweigen als reden, wie wir bereits gesagt haben; denn es sind Worte eines Juden, eines Prahlers, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Der Vater geht hinaus und spricht zu dem Sohne: "Mein Sohn, du bist immer bei mir"39 .
Wie denn? In der Person eines Abel, Henoch, Sem, Noe, Abraham, Isaak, Jakob, in der Person eines Moses und aller jener Heiligen, durch die das jüdische Geschlecht seinen Ursprung herleitet, wie es im Evangelium heißt: "Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob"40 . "Und all meine Habe ist dein"41 . Wie das? Denn dein ist das Gesetz, dein die Weissagungen der Propheten, dein der Tempel, dein das Hohepriestertum, dein das Opfer, dein das Königtum, dein die Gnaden, dein ist, was alles andere übersteigt, dein ist Christus. Aber weil du durch deine Scheelsucht den Bruder verderben wolltest, bist du nun nicht würdig des väterlichen Opfermahls, der väterlichen Freuden. S. 225In gedrängter Rede haben wir so den so reichen Stoff euch vortragen können, nicht wie wir wollten. Aber für unser Wissen und für euer Verständnis genügt es sicher, wenn wir es auch nur in gedrängter Rede tun konnten. Möchte darum auch diese schlichte und nur in Andeutungen sich bewegende Gleichnisrede, in der wir die tiefsten mystischen und die erhabensten Dinge nicht bloß aufzählen und vortragen42 , sondern auch auslegen und euch zum Verständnis bringen mußten, euch nicht ungelegen gewesen sein!
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Lk 15,11 ↩
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vgl. Phil 2,7 ↩
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d. i. Christi und des Judenvolkes ↩
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humanitati permixta deitas ↩
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mis cuit hominem et Deum ↩
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verstehe: "der Mensch" in der Parabel ↩
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die logische Gedankenverbindung ist nicht ersichtlich ↩
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vgl. Wh 4,8; Job 12,12 ↩
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des Gesetzes nämlich ↩
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Lk 15,12 ↩
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der Ausdruck lex naturae kommt in den Schriften der Apostel nicht vor; vgl. etwa Gal 2,15; Eph 2,3 ↩
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Lk 15,13 ↩
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et cum in se esset, non erat secum, vielleicht zu erklären: obwohl sie im Besitz der Naturkräfte war, war sie ihrer doch nicht mächtig. ↩
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gemeint sind die heidnischen Schulen der Epikureer und die Mysterien mit ihrem unsittlichen Kultus ↩
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Mt 8,31 ↩
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vgl. Phil 3,19; Röm 16,18 ↩
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Lk 15,16 ↩
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der Epikureer sittliches Lebensideal gipfelte in dem Satze: "Der Güter höchstes ist die Lust; der Übel größtes ist der Schmerz" ↩
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1 Kor 6,17 ↩
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Lk 15,16 ↩
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Lk 15,18f ↩
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Mt 6,9 ↩
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vgl. Röm 1,25 ↩
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Lk 15,19 ↩
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Lk 15,20 ↩
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Röm 5,8f. ↩
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eine stark modalistische Ausdrucksweise, richtig zu verstehen durch das folgende Schriftzitat ↩
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Joh 8,16 ↩
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Lk 15,20 ↩
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Lk 15,20 ↩
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Ps 84,11 ↩
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Lk 15,22 ↩
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2 Kor 11,2 ↩
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Röm 10,15; Is 52, 7 ↩
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Ps 68,32 ↩
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Röm 8,32 ↩
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Lk 10,2 ↩
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Lk 15,29 ↩
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ebd 15,31 ↩
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Mt 1,2 ↩
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Lk 15,31 ↩
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non narrare, non declamare ↩