Sechsundvierzigster Vortrag: Über die Stelle: „Deshalb gleichwie die Sünde in diese Welt durch einen einzigen Menschen kam und durch die Sünde der Tod...“ bis: „Dennoch herrschte der Tod von Adam bis auf Moses, auch über die, die nicht durch die ähnliche Übertretung wie Adam sündigten.“ Röm 5,12-14
S. 254Brüder! Wenn die vorliegende Lesung des Apostels sagt, dass durch einen Menschen die ganze Welt ihr Todesurteil empfangen habe, veranlaßt sie uns, nicht so sehr eine Rede darüber zu halten, als vielmehr in immer neuem und tiefem Schmerze darüber zu weinen. Denn wenn hervorragende Dichter über den Untergang eines einzelnen Volkes und einer einzigen Stadt, ja bisweilen eines einzelnen Menschen sich in großem Wehklagen ergangen haben: wessen Geist wird dann nicht ganz in tiefe Finsternis gehüllt, wessen Sinn vergeht dann nicht in voller Unfähigkeit, wessen Auge fließt dann nicht über in Tränenquellen, ja Tränenströme, [wenn er sieht,] dass der Fall eines einzigen das Verderben für alle wurde, dass die Schuld eines einzigen überging zur Strafe aller, dass die Sünde des Stammvaters dem gesamten Geschlechte tödlichen Untergang bereitete, wie der Apostel sagt: „Deshalb gleichwie die Sünde in diese Welt kam durch einen einzigen Menschen, und durch die Sünde der Tod“1 . O ich Unglückseliger! Der die Ursache alles Guten war, er ist geworden die Pforte des Bösen! „Die Sünde kam in diese Welt.“ „In diese Welt“. Wunderst du dich, dass der seinen Nachkommen geschadet habe, der durch seine Freveltat die Welt S. 255verdammte? Doch wendest du ein: Wie kam sie [in die Welt]? Durch wen kam sie? Wie? fragst du2 . Durch die Schuld. Durch wen? Durch den Menschen. Und nun: ist die Sünde Natur oder Substanz? Sie ist weder Natur noch Substanz, sondern ein Akzidens; die ist eine feindliche Macht, die erkannt wird im Werke3 empfunden wird in der Strafe, die die Seele bekämpft, den Geist verwundet, ja die Natur selbst verletzt und schändet. Und was soll ich noch mehr sagen, Brüder? Das ist die Sünde für die Natur, was der Rauch für die Augen, das Fieber für den Körper, das bittere Salz für die süßeste Quelle. Von Natur aus ist ja das Auge licht und klar, aber durch den feindseligen Rauch wird es getrübt und verdunkelt. Der Körper ist stark durch die einzelnen Glieder und Sinneswerkzeuge, weil er von Gott [so] geschaffen ist; aber sobald die Gewalt und der Orkan des Fiebers über ihn zu herrschen beginnt, wird er ganz geschwächt. Dann wird bitter der Geschmack, dunkel das Auge, schwankend sein Schritt, dann ist schädlich die Luft, lästig sind ihm seine Lieben, ja selbst der Liebesdienst ist ihm verhaßt. Und so angenehm die Wasser der Quelle sind durch ihre naturhafte Süßigkeit, so unangenehm werden sie, wenn irgendein schlechter Zufluß sie aufgenommen haben. Doch laßt uns zu unserem Vorhaben zurückkehren. „Gleichwie durch einen einzigen Menschen die Sünde in diese Welt kam, und durch die Sünde der Tod.“ Seht da, Brüder, die Pforte: durch den Menschen geschah die Sünde, und durch die Sünde kamen wir, wie wir an uns sehen, zum Tode!
O Sünde, du grausames Ungeheuer! Nicht zufrieden, an dem einen Haupte gegen das Menschengeschlecht zu wüten, sahen wir dich mit dreifachem Schlunde die so kostbaren Sprößlinge des ganzen Geschlechtes der Menschen verschlingen: mit dreifachem Schlunde, Brüder: als Sünde ergreift sie, als Tod verschlingt sie, als Unterwelt zieht sie vollends in den Abgrund! Und darum: mit welchem Tränenstrome sollen wir denn, wie wir sagten, genug einen S. 256solchen Vater beweinen, der uns als Erben solchen Elends zurückließ, der nicht nur das ihm anvertraute Gut verlor, sondern auch alle seine Nachkommen als Schuldner überließ so schrecklichen Gläubigern? O diese harte und grausame Erbschaft! O wir Elenden! Erben sind wir, die nicht erlangen können und nicht ausschlagen dürfen! Höret, was darum folgt: „Und so ist der Tod auf alle Menschen übergegangen“4 . Aber nicht ungerecht soll dir scheinen das Wort: „durch den einen auf alle“; denn alle [sind] durch den einen. Durch eben den beschwerst du dich, verdammt zu sein, durch den du dich rühmst, das Licht [der Welt] erblickt zu haben! Aber wendest du wieder ein: „Wenn ich meinem Vater mein Dasein verdanke, was schulde ich denn seinem Verbrechen, dass mich die Natur noch eher zum Schuldigen macht als eine Schuld?“ Auf diese deine Frage antwortet gleich der Apostel mit dem folgenden Wort: „In dem alle gesündigt haben“5 . Wenn in ihm alle gesündigt haben, haben mit Recht auch alle die Strafe empfangen. „Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in diese Welt kam, und durch die Sünde der Tod, so ist auch der Tod auf alle Menschen übergegangen, in dem alle gesündigt haben“6 , sei es in dem Menschen oder in der Sünde: durch ihn und in ihm haben alle gesündigt. Nicht also ist die Sünde verwandelt worden in [unsere] Natur, sondern sie treibt, dadurch, dass sie den Tod verhängt, die ihr geschuldete Strafe an der Natur ein. Gott hatte die Natur so gemacht, dass er die Menschen zum Leben erschuf; diese jedoch muß sich, da sie wider ihren Willen für den Tod [ihre Kinder] erzeugt, der Sünde unterworfen bekennen, da deren Strafe in ihrem Leben herrscht. Denn wer sollte wohl glauben, Brüder, dass die Natur ihre Kinder vernichten, ihre so lieben Sprößlinge töten wolle? Aber indem sie seufzt und sich in Schmerzen windet mit ihnen, betrauert sie wehklagend den Verlust und ersehnt die Wiedererlangung der Freiheit. S. 257Durch wen sie diese aber erlangte, zeigt deutlich zuerst Johannes, der, als er Christum sah, ausrief und verkündete: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde7 der Welt hinweg nimmt“8 . „Die Sünde der Welt“,Brüder, das ist jene, die nach dem Zeugnis des Apostels durch einen einzigen Menschen in die Welt gekommen ist. Freuet euch also, Brüder; denn die Sünde, die uns mit schwerer Last zur Unterwelt hinabzog, ist von Christus hinweggenommen worden, ganz tief nun in die Unterwelt versenkt, und uns, die wir dem Tode verfallen waren durch die Schuld des ersten Vaters, hat Gottes, des zweiten Vaters, Gnade zurückgerufen von der Strafe zum Leben.
Ohne Christus konnte also der Mensch nicht gerettet werden, weil die Sünde in der Welt herrschte vor seiner Ankunft. Du9 aber nimmst an, dass du durch Christus gerechtfertigt wirst, und leugnest doch, dass du durch Adam verdammt bist; du beschwerst dich darüber, dass die die Strafe eines anderen schadete, wo du doch klar erkennst, dass die die Rechtfertigung eines andern zur Rettung war! Ist denn nicht in dem Kerne der ganze Baum? Ein Verderben im Samen ist also ein Verderben für den ganzen Baum! Wenn die Natur aus sich selbst sich hätte helfen können, hätte sie niemals der Schöpfer in sich angenommen, um sie wiederherzustellen. Wie glaubst du, dass sie erschaffen sei zum Leben, wenn du zweifelst, dass sie von ihrem Schöpfer wiederhergestellt sei? „Denn bis zum Gesetze“, heißt es, „war die Sünde in der Welt“10 . Wenn du hörst: „bis zum Gesetze“, so verstehe das so: bis zum Ende des Gesetzes, d. h. bis zur Ankunft unseres Herrn Jesu Christi. „Denn die Sünde“, heißt es weiter, „wurde nicht angerechnet, da kein Gesetz war“11 . Wann aber war das Gesetz nicht da, das doch zugleich mit dem Menschen seinen Anfang nahm? Denn wenn kein Gesetz da S. 258gewesen wäre, so wäre Adam doch nie Übertreter geworden, wie ja der Apostel selbst bezeugt, indem er spricht: „Aber der Tod herrschte von Adam bis auf Moses“12 . Beide hatten ein Gesetz empfangen; aber Adam übertrat es, gleich nachdem er es empfangen hatte, Moses aber verkündete es als verhängt über die Übertreter, wie der Apostel sagt: „Das Gesetz ist der Übertretungen wegen gegeben worden“13 . Es herrschte also der Tod durch das Gesetz, indem er mit noch größerer Macht wütete gegen die Übertreter als gegen die Sünder, da jene nicht bloß durch des Stammvaters Sünde, sondern auch durch ihre eigene Schandtat gefallen waren. „Aber der Tod“, heißt es, „herrschte von Adam bis auf Moses, auch über diejenigen, die nicht durch die ähnliche Übertretung wie Adam sündigten“14 . Denn nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder verschlang er; nicht nur die Schuldigen vernichtet er, sondern auch die Unschuldigen; die, so sage ich, sind von persönlicher Schuld, nicht von der Schuld des Stammvaters frei.
Und darum war dieser Zustand noch mehr zu beklagen, weil das Kind schon bezahlen mußte die Strafe des Vaters, bevor es noch kaum als kleines Kind das Leben kostete, und schon sühnte es die Sünde der Welt, da es die Welt noch nicht einmal kannte. Doch ängstigen wir uns, Brüder, nicht darüber, dass der Tpod herrschte durch einen und und eines einzigen Sünde, weil wir ja alle unsere Erlösung und unser [neues] Sein ersehnen durch den einen Christus; denn wer immer lebt, verdankt das Christus, nicht sich, wie er Adam verdankt, dass er sterben muß.
