11. Was ihn Gott gelehrt.
Bereits hast du, o Herr, mit starker Stimme mir ins Ohr meines Geistes gerufen, daß du ewig bist, daß „du allein Unsterblichkeit besitzest“1. Denn durch keine Gestalt oder Bewegung tritt ein Wechsel in dir ein; ebensowenig ändert sich dein Wille in der Zeit, weil das kein unsterblicher Wille ist, der bald so, bald anders ist. Das ist mir klar vor deinem Angesichte; und ich flehe dich an, möge es mir immer mehr einleuchten und möge ich demütigen Sinnes in dieser Offenbarung unter deinen Flügeln verharren. So hast du auch, o Herr, mit starker Stimme mir ins Ohr meines Geistes gerufen, daß alle Naturen und Wesen, die nicht sind, was du bist, und dennoch sind, von dir erschaffen worden sind; das allein ist nicht von dir, was nicht ist2; ebensowenig ist von dir die Bewegung des Willens, von dir, der du bist, zu dem, was weniger ist, weil eine solche Bewegung Vergehen und Sünde ist. Aber keines Geschöpfes Sünde schadet dir und stört die Ordnung deines Reiches, weder im Vornehmsten noch im Geringsten. Das ist mir klar vor deinem Angesichte; und ich flehe dich an, möge es mir immer mehr einleuchten und möge ich demütigen Sinnes in dieser Offenbarung unter deinen Flügeln verharren.
So hast du mir auch mit starker Stimme ins Ohr meines Geistes gerufen, daß selbst jene Schöpfung dir nicht gleichewig ist, deren Wonne du allein bist, die in beständiger keuschester Liebe dich in sich aufnimmt und nie und nie ihre Wandelbarkeit an den Tag legt; bist du ihr gegenwärtig, so klammert sie sich mit ganzem Herzen an dich an; sie kennt keine Zukunft, worauf S. 309 sie ihre Erwartung richten könnte, sie hat auch der Vergangenheit keine Erinnerung zu übergeben, sie unterliegt somit keinem Wechsel und dehnt sich auch nicht in der Zeit aus. O glückselig solche Schöpfung, wenn es eine gibt, glückselig, da sie in deine Glückseligkeit versunken ist, glückselig, da du ewig ihr innewohnst und ihre Leuchte bist! Und ich finde nichts, was ich lieber den „Himmel des Himmels, der dem Herrn gehört“3, nennen möchte als dein Haus, das deine Wonne schaut, ohne sich je zu etwas anderem hingezogen zu fühlen, die reinen Geister, die in innigster Gemeinschaft verbunden sind durch das Band des Friedens heiliger Seelen, der Bürger deines Reiches in dem Himmel, der über dem Himmel dieser Erde ist.
Daraus möge die Seele, deren Pilgerschaft schon lange dauert, Erkenntnis schöpfen, wenn sie nach dir dürstet, wenn bereits ihre „Tränen ihr Brot geworden sind, weil man täglich zu ihr sagt: Wo ist dein Gott?“4, wenn sie bereits nur nach dem einen verlangt und „es von dir begehrt, wohnen zu dürfen in deinem Hause alle Tage ihres Lebens“5. Und was anders ist ihr Leben wenn nicht du? Und was sind deine Tage anders als deine Ewigkeit, wie auch „deine Jahre, die nicht abnehmen, weil du ewig derselbe bleibst“?6 Daraus möge also die Seele, die es vermag, erkennen, wie weit über alle Zeiten hinaus du ewig bist, da selbst dein Haus, das nie auf der Pilgerschaft ist, doch, ohne dir gleichewig zu sein, keinen Wechsel der Zeiten zu erdulden braucht, wenn es nur dir unaufhörlich und unablässig anhängt. Das ist mir klar vor deinem Angesichte; und ich flehe dich an, möge es mir immer mehr einleuchten und möge ich demütigen Sinnes in dieser Offenbarung unter deinen Flügeln verharren.
Sieh, es liegt, so scheint mir, eine Art Gestaltlosigkeit diesen Veränderungen der Dinge letzter und niedrigster Ordnung zu Grunde. Und nur der, der sich in der Torheit seines Herzens mit den Gestalten seiner S. 310 Einbildungskraft verliert und verirrt, nur der wird mir vielleicht sagen, daß wenn alle Gestalt geschwunden und verzehrt ist und allein die Gestaltlosigkeit zurückbleibt, durch die die Dinge aus einer Gestalt in die andere übergehen und sich verwandeln, diese Gestaltlosigkeit auch den Wechsel der Zeiten herbeiführen kann. Das ist aber völlig unmöglich, weil es ohne Veränderung der Bewegungen auch keine Zeiten gibt; und wo keine Gestalt ist, dort gibt es auch keine Veränderung.
