Einleitung: Vier Bücher über die christliche Lehre
S. 3 Der umfangreiche, vier Bücher umfassende Traktat des heiligen Augustinus „De doctrina christiana“ ist nicht in einem Gusse entstanden. Der erste, größere Teil des Werkes (Buch I—III, 25) scheint um das Jahr 397 verfaßt worden zu sein. Als Augustinus viele Jahre später an die Durchsicht seiner gesamten literarischen Arbeit ging, fand er das vorliegende Werk unvollendet und machte sich sofort an seine endgültige Fertigstellung; um 426 scheint es abgeschlossen gewesen zu sein1.
Um das Jahr 390 hatte der Donatist Tychonius (Ticonius) ein uns noch erhaltenes2 Werk verfaßt, das den Titel „Liber regularum“ führt, worin er sieben Regeln zur Auffindung des Schriftsinnes („secretorum legis veluti claves et luminaria“) aufstellte; dieses Werk kann als das erste lateinische Kompendium der biblischen Hermeneutik gelten. Denn aus dem christlichen Altertum sind, abgesehen von den Erörterungen der alexandrinischen (vgl. Origenes in dem vierten und letzten Buche „De principiis“3) und antiochenischen Schule über die Allegorie, nur wenige Werke zu verzeichnen, die den hermeneutischen Stoff einigermaßen ausführlich behandeln. Da sich aber die Arbeit des Tychonius leider nicht von häretischen Anschauungen freihalten konnte, so fühlte sich Augustinus gedrängt, ihr sein Werk „De doctrina christiana“ entgegenzusetzen. Übrigens schätzte Augustinus den Tychonius sehr hoch und bezeichnete ihn anerkennend als „hominem et acri ingenio praeditum et uberi eloquio“ (c. epist. Parmen. 1,14).
S. 4 Was nun Augustinus in seiner Schrift „De doctrina christiana“ schuf, übertraf nach Umfang und Inhalt bei weitem alle vorausgegangenen Versuche auf diesem Gebiete. Und wie es seine Vorgänger hoch überragte, so blieb es tausend Jahre hindurch unerreicht und diente im Mittelalter, wie wir z. B. aus Hrahanus Maurus (de institutione clericorum III.) ersehen, für alle, die sich mit biblischen Studien befaßten, als Führer. Selbst für die Dogmatik des Mittelalters ist es bedeutungsvoll geworden.
Das vier Bücher umfassende Werk erörtert die zwei Hauptfragen aller Bibelwissenschaft, wie die Lehre der Heiligen Schrift zu ermitteln und wie sie den Gläubigen vorzutragen ist. Der Hauptteil des Werkes, der, wie erwähnt, recht eigentlich eine biblische Hermeneutik darstellt, handelt in den beiden ersten Büchern von der theologischen und profanwissenschaftlichen Vorbildung, die zu einem gedeihlichen Bibelstudium erforderlich ist. Das dritte Buch bespricht die Schreib- und Lehrweise der Bibel und gibt Regeln für deren Deutung; eine Kritik der Tychonischen Regeln beschließt den Hauptteil des Werkes. — Das vierte Buch hat mehr pastoral-theologischen Charakter, insoferne es den ersten Versuch einer systematischen Homiletik bildet. Bei den älteren Vätern konnte Augustinus über die Theorie der Predigt wohl einzelne, gelegentliche Bemerkungen und Anweisungen finden, so bei Chrysostomus (De sacerdotio IV und V); aber erst Augustinus selbst gab in diesem vierten Buch seiner „doctrina christiana“ außer goldenen Grundsätzen für den Prediger auch einen Ansatz zu einer wirklich systematischen Homiletik. Hrabanus Maurus knüpfte auch hier wieder an Augustinus an (De institutione clericorum) und vermittelte so auch die Weisheit des Predigers Augustinus seiner Zeit und damit der Nachwelt. Welche Hochschätzung das Mittelalter und die beginnende Neuzeit gerade dieser homiletischen Abhandlung des heiligen Augustinus entgegenbrachte, erhellt daraus, daß das allererste Werk dieses Kirchenvaters, das durch die neue Kunst des Buchdruckes einer größeren Leserzahl zugänglich gemacht wurde, das unter dem Titel „De Arte praedicandi“ wahrscheinlich S. 5 1465 zu Straßburg bei Johannes Mentelinus gedruckte vierte Buch der „doctrina christiana“ war. Noch im nämlichen oder wenigstens im folgenden Jahr erschien dann ein Abdruck des vierten Buches bei Johannes Fust in Mainz5.
Textlich ist man bei der „doctrina christiana“ immer noch auf die Mauriner Ausgabe angewiesen.
Eine deutsche Übersetzung erschien zum erstenmal 1532 zu Straßburg von Dr. Kaspar Hedio, dem berühmten lutherischen Reformprediger („Augustini des heyligen Bischofs IV Bücher von Christlicher leer“). — Die Übersetzung in der ersten Auflage der „Bibliothek der Kirchenväter“ stammt von R. Storf (Kösel, Kempten 1877); ich habe sie oft beigezogen.
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Vgl. Retract. II, 4. ↩
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Eine kritische Ausgabe des Werkes besorgte F. C. Burkitt, The Book of Rules of Tyconius (Cambridge 1894; Texts and Studies III, 1). ↩
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Vgl. Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Literatur, II. Bd. „Origenes“. ↩
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Sogar für seine „Civitas Dei“ verdankte Augustinus dem Tychonius vielleicht einige Anregung (vgl. Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Leipzig 1911, S. 114 ff.). ↩
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Über alte Drucke des Werkes „De doctrina christiana“ vgl. Notitia litteraria in S. Augustinum (Supplementum ad opera S. Augustini. Migne Patrol. Ser. lat. 47) Spalte 129 ff. ↩