34. Kapitel: Die vierte Regel des Tychonius
47. Die vierte Regel des Tychonius handelt von der Art und von der Gattung: so drückt er sich nämlich aus und will unter der Art einen Teil, unter der Gattung aber das Ganze verstanden wissen. Ein Teil der Gattung ist also das, was er Art nennt, so wie jeder einzelne Staat sicherlich ein Teil der Gesamtheit S. 149der Völker ist: den Einzelstaat nennt er Art, alle Völker zusammen aber Gattung. Wir dürfen jedoch die von den Dialektikern gelehrte Feinheit der Unterscheidung hier nicht anwenden; denn diese disputieren sehr scharfsinnig über den Unterschied zwischen den Teilen und der Art. Derselbe Einteilungsgrund liegt vor, wenn nicht von einer einzelnen Stadt, sondern von einer einzelnen Provinz oder einem Volke oder einem Reiche etwas Derartiges in den göttlichen Aussprüchen gefunden wird. Denn es wird z. B. nicht bloß von Jerusalem oder auch von irgendeiner heidnischen Stadt wie Tyrus oder Babylon oder von einer anderen in der Heiligen Schrift etwas ausgesagt, was ihre Grenzen überschreitet, sondern auch von Judäa, Ägypten, Assyrien oder jedem beliebigen Volke, dem sehr viele einzelne Städte angehören, aber nicht gleich der ganze Erdkreis, von dem sie bloß Teile sind, ist etwas ausgesagt, was ihre Grenzen überschreitet und mehr dem Ganzen angemessen ist, von dem sie bloß Teile sind oder was, wie Tychonius sich ausdrückt, mehr der Gattung angemessen ist, von der diese einzelnen Teile nur Arten sind. Diese Ausdrucksweise ist jetzt sogar zur Kenntnis des gewöhnlichen Volkes gekommen, so daß heute auch ungebildete Leute verstehen, was in einem kaiserlichen Erlaß „nach Art und nach Gattung1“ verordnet wird. — Diese Unterscheidung kann man sogar auch auf einzelne Menschen anwenden: so überschreitet auch das, was (eigentlich bloß) von Salomon erzählt wird, sein Maß und wird vielmehr erst klar, wenn man es auf Christus oder die Kirche bezieht, von der er nur ein Teil ist.
48. Es wird aber die Art nicht immer überschritten: denn es wird oft etwas ausgesagt, was auch für sie oder sogar für sie allein ganz deutlich paßt. Wo aber ein Übergang von der Art zur Gattung stattfindet, während es noch so ausschaut, als spreche die Schrift noch von der Art, da muß der Leser sorgsam wachen, daß er nicht dasjenige noch an der Art suchen will, was er leichter und besser schon an der Gattung finden kann. S. 150Leicht ist der Ausspruch des Propheten Ezechiel zu verstehen: „Das Haus Israel wohnte in seinem Lande und sie verunreinigten es durch ihren Wandel, durch ihre Götzen und ihre Sünden. Ihr Wandel ist vor mir wie die Unreinigkeit eines blutflüssigen Weibes geworden. Und ich schüttete meinen Zorn über sie aus und zerstreute sie über die Völker und worfelte sie hinaus in die Länder: nach ihrem Wandel und nach ihren Sünden richtete ich sie2.“ Diese Stelle ist, wie gesagt, leicht zu verstehen von jenem Haus Israel, von dem der Apostel sagt: „Sehet Israel nach dem Fleische3!“, weil das fleischliche Israel all dies tat und dafür all dies erdulden mußte. Auch das Folgende paßt offenbar für dasselbe Volk. Aber wenn der Prophet anfängt zu reden: „Ich will heiligen meinen heiligen, großen Namen, der entweiht worden ist unter den Völkern, den ihr entweiht habt mitten unter ihnen, und die Völker werden erfahren, daß ich der Herr bin4“, dann muß der Leser mit gespannter Aufmerksamkeit achten, wie über die Art hinausgegangen und wie die Gattung beigefügt wird. Der Prophet fährt nämlich fort mit den Worten: „Wenn ich aber durch euch geheiligt werde vor ihren Augen, dann werde ich euch von den Heiden wegnehmen und euch sammeln aus allen Ländern und euch in euer Land zurückführen. Und ich will euch mit reinem Wasser besprengen, und ihr werdet gereinigt werden von allen euren Götzenbildern, und ich will euch reinigen und euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch senken. Und ich werde das Herz von Stein aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben und meinen Geist in euch hineinsenken. Und ich werde bewirken, daß ihr in meinen Geboten wandelt, auf meine Rechte achtgebet und darnach handelt. Und ihr sollt wohnen in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, und ihr werdet mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein. Und ich will euch reinigen von all euren Unreinigkeiten.“ Dies ist S. 151vom Neuen Testament geweissagt, zu dem nicht bloß jenes eine Volk in seinen Überbleibseln gehört, von denen an einer anderen Stelle geschrieben steht: „Wäre auch die Zahl der Kinder Israels wie Sand am Meere, so wird doch nur ein Überrest davon gerettet werden5.“ Zum Neuen Testament gehören aber auch all die anderen Völker, die ihren Vätern, die auch die unsrigen sind, verheißen wurden; das bezweifelt niemand, der beachtet, daß hier das Bad der Wiedergeburt versprochen worden ist, das wir jetzt allen Völkern eröffnet sehen. Was der Apostel zur Empfehlung der Gnade des Neuen Testamentes und für seinen Vorrang vor dem Alten sagt: „Unser Brief, das seid ihr: geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des lebendigen Gottes, nicht auf steinernen Tafeln, sondern auf die fleischernen Tafeln des Herzens6.“ Das ist ganz sicherlich von der Stelle genommen, wo der Prophet sagt: „Und ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch senken und ich werde das Herz von Stein aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben7.“ Das Herz von Fleisch, auf das der Apostel mit den Worten „auf die fleischernen Tafeln des Herzens“ anspielt, soll im Unterschied zu den steinernen Herzen das fühlende Leben bezeichnen; mit dem fühlenden Leben aber deutete er das erkennende Leben an. So wird das geistige Israel nicht Eigentum bloß eines einzelnen Volkes, sondern aller Völker, die den Vätern in ihrem Samen, d. h. in Christus verheißen worden sind.
49. Dieses geistige Israel also unterscheidet sich von dem fleischlichen, das nur einem einzelnen Volke angehört, durch die Neuheit des Gnadenbandes, nicht durch die Freiheit des Vaterlandes, durch Mut, nicht durch Blut8, aber der Schwung des Propheten geht unvermerkt S. 152vom alten auf das neue Israel über, und wo er schon vom neuen Israel redet und sich an dieses wendet, da scheint es, als rede er noch vom alten Israel und wende sich an dieses. Damit will er uns nicht gleichsam mit feindseligem Neid das Verständnis der heiligen Schriften vorenthalten, sondern nur unseren Verstand heilsam üben. Daher müssen wir die Worte: „Und ich werde euch in euer Land führen“, und die kurz darauf folgenden: „Und ihr werdet im Lande wohnen, das ich euren Vätern versprochen habe9:“, nicht fleischlich wie das fleischliche Israel, sondern als geistiges Israel geistig nehmen. Die Kirche nämlich ohne Flecken und Runzeln10, aus allen Völkern gesammelt, berufen, mit Christus in Ewigkeit zu herrschen, ist selbst das Land der Seligen, das Land der Lebendigen11. Unter ihr ist das Land zu verstehen, das den Vätern schon damals gegeben worden war, als es jenen durch den gewissen und unveränderlichen Willen Gottes verheißen wurde. Denn gerade durch das unerschütterliche Versprechen und Vorherbestimmen wurde es ihnen schon damals gegeben, als die Väter glaubten, es werde ihnen seinerzeit gegeben werden. So schreibt auch der Apostel von der den Heiligen verliehenen Gnade an Timotheus: „Nicht als ob wir es durch unsere Werke verdient hätten, nein, der Grund unserer Berufung ist seine freie Vorherbestimmung und Gnade, die uns in Christus Jesus vor den ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber durch die Ankunft unseres Heilandes geoffenbart worden ist12.“ Er sagt, die Gnade sei gegeben worden, als noch niemand da war, dem sie hätte gegeben werden können, weil in der Anordnung und Vorherbestimmung Gottes das schon geschehen war, was zu seiner Zeit erst geschehen sollte: das heißt der Apostel „offenbaren“. Doch kann das Land der Lebendigen auch vom Lande der künftigen Zeit verstanden werden, wo ein neuer Himmel und eine neue Erde sein wird13, auf der keine Ungerechten wohnen S. 153können. Darum sagt man mit Recht den Frommen, das sei ihr Land, das in keiner Beziehung den Bösen gehört: denn auch dieses Land ist dann schon weggegeben, wenn einmal feststeht, daß es überhaupt weggegeben wird.
specialiter, generaliter. ↩
Ezech. 36, 17 f. ↩
1 Kor. 10, 18. ↩
) Ezech. 36, 23. ↩
Is. 10, 22. ↩
2 Kor. 3, 2. ↩
Ezech. 11, 19 und 36, 26. ↩
So übersetzt Storf den Text: … novitate gratiae non nobilitate patriae, et mente non gente. ↩
Ezech. 36, 24. ↩
Eph. 5, 27. ↩
Ps. 26, 13. ↩
2 Tim. 1, 9. ↩
Apok. 21, 1. ↩
