5. Kapitel: Für den christlichen Redner ist es von größerer Bedeutung, weise als beredt zu sprechen. Das Ideal ist aber die glückliche Mischung beider Fähigkeiten
7. Alles, was ich eben gesagt habe, das beobachten fast alle Menschen unaufhörlich in ihrer rednerischen S. 166Tätigkeit. Aber während es die einen stumpf, unschön und kalt tun, tun es die anderen scharfsinnig, formenschön und begeistert. Muß nun einer an die von uns beabsichtigte Aufgabe herantreten, der wenn nicht gerade beredt, so doch wenigstens weise zu disputieren und zu sprechen vermag, so nützt er dann doch auch wirklich seinen Zuhörern, wenn der Nutzen auch nicht so groß ist, als wenn er auch redegewandt (und nicht bloß weise) zu sprechen versteht. Wer aber eine bloß unweise Beredsamkeit im Überflusse hat, vor dem muß man sich um so mehr hüten, je mehr der Zuhörer von ihm in nutzlosen Sachen ergötzt wird und meint, der Redner spreche deshalb auch schon wahr, weil er ihn beredt sprechen hört. Diese Wahrheit kennen selbst jene recht gut, die einen eigentlichen Unterricht in der Rhetorik für notwendig halten: sie geben zu, daß Weisheit ohne Beredsamkeit einer Gemeinde allzu wenig nütze, daß aber Beredsamkeit ohne Weisheit meistens geradezu sehr viel schade ohne jemals zu nützen. Wenn sich also schon die Lehrer der Beredsamkeit gerade in den hierauf bezüglichen Büchern unter dem Zwange der Wahrheit zu diesem Bekenntnis genötigt sehen, obgleich sie doch die wahre Weisheit, die von oben vom Vater des Lichtes1 kommt, nicht kennen, um wieviel weniger dürfen wir, die Söhne und Diener dieser Weisheit, einer anderen Ansicht huldigen? Weise aber spricht ein Mann in einem höheren oder tieferen Grade, je nachdem er in den heiligen Schriften größere oder geringere Fortschritte gemacht hat. Dies will ich aber nicht vom vielen Lesen und Auswendiglernen, sondern von ihrem guten Verständnis und ihrer sorgsamen Erforschung gesagt haben; denn es gibt auch solche, die sie zwar lesen, aber nicht verstehen, und solche, die sie lesen um sie zu behalten, die es aber versäumen, sie auch verstehen zu lernen. Solchen Leuten sind zweifelsohne jene anderen bei weitem vorzuziehen, die den Wortlaut zwar weniger genau behalten, aber den Kern der Worte mit den Augen des Geistes schauen. Den Vorzug vor diesen beiden Menschenklassen verdient aber der, welcher die S. 167heiligen Schriften anführen kann, wann er will, und sie versteht, wie er soll.
8. Für den also, der auch über das, was er nicht beredt behandeln kann, weise sprechen soll, ist es höchst notwendig, die Worte der Schrift zu behalten. Je ärmer er sich an eigenen Worten weiß, um so reicher muß er an Schriftworten sein; dann kann er mit diesen Worten beweisen, was er mit seinen eigenen schon gesagt hat, und durch das Zeugnis der großen Worte wächst dann sozusagen, was er an den eigenen zu klein ist. Denn der ergötzt darin wenigstens durch die (Kraft seiner) Beweisführung, der es nicht durch die (Schönheit seiner) Rede kann. Wer aber nicht bloß weise, sondern auch beredt sprechen will, weil er in der Tat mehr nützen wird, wenn er beides kann, den weise ich an, viel lieber gleich beredte Männer zu lesen oder zu hören und sie dann durch eigene Übung nachzuahmen, als sich lange mit Lehrern der Rhetorik zu beschäftigen. Es müssen jedoch die Männer, die man liest oder hört, wirklich das Lob verdienen, daß sie nicht bloß beredt, sondern auch weise gesprochen haben und noch sprechen. Wer nämlich bloß beredt spricht, der wird zwar mit süßem Behagen, wer aber auch weise spricht, der wird mit Nutzen angehört. Daher sagt die Schrift nicht, daß die Menge der Wohlredner, wohl aber, daß die Menge der Weisen die Gesundheit des Erdkreises sei2. Wie man aber oft auch ein bitteres Heilmittel nehmen muß, so muß man auch immer eine verderbliche Süßigkeit meiden. Was gibt es aber Besseres als eine Süßigkeit, die zugleich heilsam, oder eine Heilsamkeit, die zugleich süß ist? Je mehr man nämlich in diesem Falle nach Süßigkeit verlangt, um so leichter kann ja die Heilsamkeit nützen. Es gibt also Männer der Kirche, welche die göttlichen Aussprüche nicht allein weise, sondern auch beredt behandelt haben. Wollte man sie alle lesen, so würde es denen, die sie lesen und studieren wollen, eher an der nötigen Zeit mangeln, als daß die Zahl der Schriftsteller nicht mehr ausreichte.
