18. Kapitel: Der christliche Redner muß seinen Stil seinem immer erhabenen Stoff anpassen
35. Diese drei Stücke könnte Cicero in der Form, wie er sie gegeben hat, wohl an Gerichtssachen nachweisen, nicht aber in unserem Fall, d. h. in kirchlichen Fragen, in denen sich die Art von Reden bewegt, über die wir belehren wollen. Dort heißt man nämlich die Fälle bescheiden, wo bloß über Geldangelegenheiten zu verhandeln ist, bedeutend aber solche, wo Heil und Leben von Menschen auf dem Spiele stehen; wo aber nichts Derartiges zu beurteilen ist und der Zuhörer zu keiner Tat oder Entscheidung veranlaßt, sondern nur ergötzt werden soll, da liegen die Dinge gleichsam in der Mitte und man sprach darum von mittelmäßigen, d. h. mäßigen Fällen. „Mäßig“ kommt aber von dem (an sich keinerlei Quantität ausdrückenden) Worte „Maß“, weshalb es eigentlich ein Mißbrauch und nicht ein im Wesen des Begriffes liegender Grund ist, warum man von „mäßig“ und nicht gleich von „klein“ spricht. In unseren S. 194 (kirchlichen) Reden ist aber alles, was wir sagen, groß; müssen wir ja doch alles, zumal das, was wir von erhabener Stelle (von der Kanzel) aus zum Volke sprechen, nicht auf das zeitliche, sondern auf das ewige Heil der Menschen beziehen und uns dabei vor dem ewigen Verderben hüten. Dies gilt so sehr, daß selbst dasjenige, was der kirchliche Lehrer über Gewinn oder Verlust in Geldsachen redet, nicht klein erscheinen soll, mag nun die Summe klein oder groß sein. Denn nichts Kleines ist die Gerechtigkeit, die wir sicherlich auch bei einer kleinen Summe wahren müssen; sagt ja doch der Herr: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu1.“ Etwas Geringes bleibt also an sich wohl etwas Geringes: im Geringsten aber treu zu sein, das ist etwas Großes. Das Wesen des Rundseins, daß man nämlich von einem Punkte in der Mitte aus gegen die Peripherie zu lauter gleiche Linien zieht, bleibt ein und dasselbe bei einer großen Scheibe und bei einer kleinen Münze; geradeso wird die Größe der Gerechtigkeit nicht kleiner, wenn etwas Kleines gerecht ausgeführt wird.
36. Als daher der Apostel von weltlichen Händeln sprach, und was meinte er dabei wohl anderes als Geldhändel, da sagte er: „Wagt es einer von euch, der mit einem anderen einen Rechtsstreit hat, die Sache vor ungläubigen (heidnischen) Richtern zur Entscheidung zu bringen und nicht vor den Heiligen (Gläubigen)? Oder wißt ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Wenn nun durch euch die Welt gerichtet werden soll, seid ihr da unwürdig, den geringsten Streithandel zu entscheiden? Wißt ihr nicht, daß wir, um von irdischen Dingen zu schweigen, selbst die Engel richten werden? Habt ihr nun Streit über bloß zeitliche Dinge, so stellt die ersten besten, auch die niedrigsten Mitglieder der Gemeinde als Richter auf! Zu eurer Beschämung sage ich es: Ist denn keiner von euch verständig genug, um unter Brüdern Streit schlichten zu können? Muß denn der Bruder mit dem Bruder Prozeß führen und S. 195noch dazu vor Ungläubigen? Schon das ist allemal ein beklagenswerter Mangel, daß ihr überhaupt Streitigkeiten miteinander habt. Warum leidet ihr nicht lieber Unrecht? Warum laßt ihr euch nicht lieber übervorteilen? Statt dessen übt ihr selber Unrecht und Betrug, und zwar den Brüdern gegenüber. Oder wißt ihr denn nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden2?“ Warum ist der Apostel so unwillig, warum tadelt, beschimpft, schilt und bedroht er die Korinther so? Warum bezeugt er seine Gemütserregung durch einen so häufigen und bitteren Wechsel der Stimme? Warum endlich spricht er von den unbedeutendsten Dingen in so erhabenem Stile? Haben denn weltliche Dinge in seinen Augen so großen Wert? Das sei ferne! Er tut dies vielmehr wegen der Gerechtigkeit, Liebe und Frömmigkeit, lauter Tugenden, die, wie kein ruhig denkender Geist bezweifelt, auch in den kleinsten Dingen groß sind.
37. Wollten wir die Menschen unterrichten, wie sie auch ihre weltlichen Rechtshändel vor den kirchlichen Richtern für sich und die Ihrigen führen sollen, so würden wir sie mit Recht dazu auffordern, dieselben als unbedeutende Angelegenheiten im niederen Stil zu behandeln. Da wir aber von der Sprache eines Mannes reden, der über jene Dinge belehren soll, durch die wir von den ewigen Übeln frei werden und zu den ewigen Gütern gelangen, so sind es immer große Dinge, mögen sie vor dem Volk oder vor einzelnen, vor einem oder vor mehreren, vor Freunden oder vor Feinden, in fortlaufender Rede oder in der Unterredung, in Abhandlungen oder in Büchern, in sehr langen oder in ganz kurzen Briefen behandelt werden. Sollte etwa deshalb, weil ein Becher kalten Wassers eine sehr geringe und wertlose Sache ist, der Ausspruch des Herrn auch etwas ganz Geringes und Wertloses sein, daß der seinen Lohn nicht verliere, der einem seiner Schüler einen solchen Becher reicht3? Oder soll ein Redner, der darüber in der Kirche spricht, S. 196glauben, er bespreche nur etwas Geringfügiges und dürfe daher nicht im gemäßigten oder erhabenen, sondern müsse im niederen Stil sprechen? Ist nicht, als wir einmal darüber zum Volke redeten und wir dabei durch Gottes Beistand nicht unpassend sprachen, aus jenem kalten Wasser gleichsam eine Flamme entstanden4, die auch die kalten Herzen der Menschen zur Übung der Werke der Barmherzigkeit durch die Hoffnung auf himmlischen Lohn entflammte?
