2. Cap. Die Sitte, die Jungfrauen sich verschleiern zu lassen, ist durch das Herkommen mancher christlichen Gemeinden geheiligt. Sie verdient geprüft zu werden, da sie die Sittsamkeit begünstigt.
Allein ich will für die in Rede stehende Sitte vorläufig nicht einmal die Richtigkeit beanspruchen. Mag das Herkommen eine zeitlang als solches gelten, um dem Herkommen auch ein Herkommen entgegenzustellen. In Griechenland und einigen seiner Barbarenländer1 gibt es mehrere Gemeinden, die ihre Jungfrauen sich verhüllen lassen. Es findet sich auch sonst noch diese Einrichtung hier und dort unter der Sonne, so dass man diese Gewohnheit nicht der griechischen oder barbarischen Nationalität eigentümlich zuzuschreiben braucht. Aber ich habe nur diejenigen Kirchen vorangestellt, welche entweder durch die Apostel selbst oder durch apostolische Männer gegründet wurden, vermutlich sogar noch vor gewissen Leuten.2 Es besitzen folglich auch sie dieselbe Gewähr für ihr Herkommen, und sie verweisen mit mehr Recht auf Zeiten und Vorgänger als diese spätern Kirchen. Wie sollen wir es halten? wofür uns entschliessen? Wir können eine Gewohnheit nicht zurückweisen, die wir nicht verdammen können, weil sie keine fremdartige ist; denn sie gehört nicht draussen Stehenden an, sondern solchen, welchen wir die Rechte des Friedens und den Brudernamen gewähren. Unser Glaube und der ihrige ist einer, wir haben einen Gott, denselben Christus, dieselbe Hoffnung, dieselben Sakramente der Abwaschung und, um es mit einem Male zu sagen, wir bilden eine Kirche. Was also den Unsrigen gehört, ist auch das Unsrige, sonst spaltet man den zusammengehörenden Körper.
Doch es müsste hier, wie es bei allen verschiedenartigen Einrichtungen, Zweifeln und Ungewissheiten zu geschehen pflegt, eine Prüfung angestellt werden, welche von den beiden verschiedenen Gewohnheiten mehr der göttlichen Sittenzucht entspricht. Und da ist dann jedenfalls diejenige Sitte vorzuziehen, welche die Jungfrauen, als nur Gott allein bekannt, in Gewahrsam nimmt. Denn abgesehen davon, dass sie ihren Ruhm bei Gott und nicht bei den Menschen suchen müssen, haben sie auch sogar über ihren eigenen Vorzug zu erröten. Eine Jungfrau setzt man mehr durch Lob als durch Tadel in Verlegenheit, weil die Sünde eine härtere Stirn S. 358 besitzt. Sie hat von und in der Sünde selbst die Unverschämtheit gelernt. Denn die Gewohnheit, welche die Jungfräulichkeit gleichsam ableugnet, indem sie sie zur Schau stellt, würde bei niemandem Billigung gefunden haben, als nur bei einigen Leuten, die eben so sind wie die betreffenden Jungfrauen selbst. Denn die Augen, welche eine Jungfrau zu sehen wünschen, können nur so sein, wie die Augen der Jungfrau, die gesehen zu werden wünscht. Augen von derselben Art verlangen nacheinander. Die Lust des Sehens ist die gleiche wie die des Gesehenwerdens. Ein heiliger Mann errötet ebenso beim Anblick einer Jungfrau, wie eine heilige Jungfrau, wenn der Blick des Mannes sie trifft.
